Das Leben und das Schreiben (nicht King - nur ich)

Hallo Kollegen,

ich habe Lust, hier ein Fässchen aufzumachen.

Arbeit:

Früher habe ich hauptberuflich geschrieben, nach dem Volontariat als freier Redakteur, später als Ghostwriter. Irgendwann habe ich mich dazu entschlossen, noch mal etwas Neues zu probieren (IT - selbstständig). Das hing auch mit der generellen Situation bei den Medien und Kunden zusammen (Bezahlung, Arbeitsaufwände, etc.) und mit der Tatsache, dass ich ein bisschen Lust auf eine „planbarere Zukunft“ hatte - wenn es sowas überhaupt gibt.

Damals beim Neustart habe ich geglaubt, dass mein neues Business mir die finanzielle Freiheit gibt, meine eigenen Geschichten zu schreiben. Mittlerweile bin ich etwas realistischer. Oft komme ich vor lauter Arbeit und allem, was dazugehört, gar nicht dazu, für meine Leidenschaft Schreiben das nötige/gewünschte Zeitfenster zu schaffen.

Privat:

Mensch 1: „Darf ich dann auch mal was von dir lesen?“
Mensch 2: „Das hängt davon ab, ob du mir Zeit gibst, etwas zu schreiben.“

Was für die Arbeit gilt, lässt sich auch in abgewandelter Form für das Privatleben sagen. Es ist aber komplizierter, weil andere Menschen involviert sind.
Manchmal fehlt die Zeit oder die Möglichkeit, sie sich zu schaffen. Descartes hatte sich seinerzeit aus dem sozialen Leben mehr oder weniger komplett zurückgezogen, um durch Nachdenken sich selbst auf die Spur zu kommen. Manchmal frage ich mich, ob das ein probates Mittel für das (nebenher) Schreiben sein könnte. :kissing:

Winfried Hille schreibt in seinem Buch „Eigentlich bin ich ganz anders“
„Es ist eine Illusion, die eigenen Vision leben zu wollen, ohne dabei rücksichtslos zu sein.“

Man kennt das ja auch aus anderen Sachgebieten: Ein Mensch lernt im Sommer einen Snowboarder, eine Snowboarderin kennen. Voll cool! Toller Typ! Und dann im Winter, wenn der erste Schnee fällt, ist Theater.

Mensch 3 sagte mal. „Also Schreiben ist doch einfach. Da fängst du oben links an und hörst unten rechts auf.“

Ist Schreiben zu abstrakt für Menschen, die es nicht praktizieren und die nicht dafür brennen - Freunde, Partner, etc.?

Wäre es einfacher, wenn man Gehirnchirurg wäre und sagen würde: „Wochenende in die Berge geht nicht, ich muss operieren.“ Würden das mehr Leute verstehen?

How To?

Grüße
Andreas

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Ja, das würden mehr Leute verstehen. Für den Chirurg ist das sein Hauptberuf, und bei dem kann er sich seine Arbeitszeiten nicht aussuchen.

Wenn es um eine freiwillige Nebentätigkeit geht, bei der man sich die Arbeitszeiten selbst aussucht, dann finde ich es nachvollziehbar und verständlich, dass der Partner oder die Freunde sich fragen, warum sie auf der Prioritätenliste offenbar viel weiter unten stehen.

Aber auch die könnten sich an feste und regelmäßige Zeitfenster gewöhnen.

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Könnten: schon. Ich würde meinen Partner eiskalt “abschießen”, wenn ich bei ihm ein Zeitfenster buchen müsste. Super Beziehung …

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Und das regelmäßige Zeitfenster ist dann so wichtig, dass man noch nicht mal einen gemeinsamen Wochenendurlaub planen kann?

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Das nennt man dann wohl Liebe. :frowning:
Sorry, bin gerade von Bölls “Fürsorgliche Belagerung” beeinflusst.

Wahre Liebe zu der großen Leidenschaft “Schreiben” - als Partner würde ich dann nicht gern die zweite Geige spielen.
… oder vierte oder fünfte…

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Man kann Rücksichtslos auch gegen sich selbst sein. Ich nutze verstärkt die Zeiten, in denen ich eigentlich gerne etwas anderes tun würde. Also wenn mein Sohn im Bett ist und meine Frau Fernsehen guckt, und ich eigentlich lieber Musik hören oder lesen würde. Da klaue ich in erster Linie mir die Zeit. Außerdem schreibe ich ungerne abends, aber da habe ich halt am meisten Zeit. :slight_smile:

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Man kann das Zeitfenster ja auch bei dem Urlaub berücksichtigen. Eine Ausnahme begünstigt nämlich sehr leicht die nächste und die übernächste. Glücklicherweise kann man an sehr vielen Orten auf der Welt schreiben. Und wenn man ein Ziel erreichen will, muss man dranbleiben. Das schafft man am besten durch Bildung von Gewohnheiten. James Clear gibt in “Die 1%-Methode” viele hilfreiche Tipps dazu. Wenn man einen Marathon laufen wollte, könnte man sich auch nicht so leicht einen Trainingsausfall leisten. Und ein Buch zu schreiben, hat schon etwas von einem Marathonlauf.
Wenn mein Partner sich nicht mal eine bis zwei Stunden selbst beschäftigen könnte, während ich schreibe, wäre er nicht der Richtige für mich.

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Da lebt wohl jemand die eigene Vision von einem guten Familienvater. :thumbsup:

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Ich würde einen Partner eiskalt abschießen, wenn er mir keine Freiräume ließe …
Ein guter Freund von mir sagt immer, es käme in einer Beziehung auf die Qualität der Zeit an, nicht auf die Quantität. Deshalb trifft er seine Partnerin auch nur von Donnerstag bis Sonntag. Und er würde nie seine Wohnung aufgeben …

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Ich auch. Für mich hat ein Zeitfenster allerdings nichts, aber auch gar nichts mit Freiräumen zu tun. Da haben wir offenbar ein unterschiedliches Verständnis davon, was ein Zeitfenster ist. Ein Zeitfenster hört sich für mich nach Terminbuchung an. Das geht in einer Partnerschaft nicht. An anderer Stelle haben wir beiden schon festgestellt, dass dein Leben nach Plan verläuft und meins eher nach Spontanität. Es lebe die Viefalt, ganz ohne Zeitfenster. :slight_smile:

Du hast vielleicht einen Buchstaben vergessen.
“Das geht in meiner (also deiner) Partnerschaft nicht.”

Stimmt.

Viele Wege führen nach Rom. Das mit dem Zeitfenster lässt sich ja auch anders legen, nämlich für das Schreiben. Jeden Tag eine Stunde dem Partner zu geben, damit er Schreiben kann, finde ich nicht zu viel verlangt.
Davon abgesehen, jeder hat seine Hobbies, denen er auch in einer Partnerschaft nachgehen können sollte. Und wenn es da diese Sache gibt, die eben mehr als ein Hobby ist, nämlich eine Leidenschaft, oder der notwendige Ausgleich zum alltäglichen Wahnsinn, dann sollte eine gute Beziehung auch damit klarkommen. In beide Richtungen. Das hat ja nichts mit “Du hast das Schreiben lieber als mich” zu tun. Ich jedenfalls würde meine Partnerin da nicht verbiegen oder ihr verwehren wollen, das zu tun, was sie eben gerne tun möchte. Auch, wenn das bedeutet, dass wir dann mal am Tag eine Stunde oder zwei weniger miteinander haben.
Ist aber nur meine Meinung, von der sich niemand angegriffen oder kritisiert fühlen soll/muss.

Was das angeht, kann ich es dir nachfühlen. Ich bin nicht selbstständig, habe aber einen 41 Stunden-Job, bei dem grundsätzlich Überstunden anfallen, weil wir chronisch unterbesetzt sind. Der Job hat nicht wirklich was mit Schreiben zu tun, dafür aber mit viel Arbeit am Bildschirm. Sich abends dann noch mal für ein paar Stunden davor zu setzen, ist oftmals einfach nicht drin, so sehr ich es auch will. Allerdings habe ich auch die Möglichkeit, Stopp zu sagen, und die Überstunden abzulehnen (sofern sie nicht angeordnet wurden). Und nach meinem Burn-Out vor 11 Jahren habe ich auch keine Hemmungen mehr, das Stoppschild hochzureißen und - vereinfacht ausgedrückt - mir somit Zeit und Energie zum Schreiben zu verschaffen (mein Ausgleich zum täglichen Wahnsinn).

Manchmal hilft nur, einen Schritt zurückzutreten und seine Situation mal weitgehend objektiv zu betrachten und zu beurteilen. Ob es jetzt noch das ist, was man will, ob man zufrieden damit ist, wie es ist, und wenn nicht, wie man diesen Punkt denn erreichen kann.

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So, wie @AndreasW es schildert, gehen fast alle Antworten in die falsche Richtung. Er hat sich selbständig gemacht, um mehr Zeit zu haben. Jetzt hat er weniger Zeit. Das bedeutet, er ist vielleicht zu materialistisch, daher rührt die fehlende Zeit. Einfach ab und an mal einen Auftrag nicht annehmen und schon hat man alle Zeit der Welt, um endlich zu schreiben. Selbständig zu sein, bedeutet eben nicht nur selbst und ständig, es bedeutet auch, die Freiheit zu haben, etwas lassen zu können.
Es hat ja schließlich gute (und oft dieselben) Gründe, warum hier so viele Autoren erst aufschlagen, nachdem sie die magischen Fünfzig überschritten haben. In dem Alter hat man eben nicht nur die Lebens- und die Schreiberfahrung, um durchzustarten, sondern weiß eben auch, seine Prioritäten richtig zu setzen. Vielleicht ist ja alles ganz anders bei @AndreasW, ich kann nur von dem ausgehen, was er schildert. Weniger arbeiten, bedeutet mehr Zeit für andere Dinge zu haben.

Wenn ich schreibe, bin ich ein asozialer Arsch. Stehe um vier Uhr morgens auf, schreibe zwei bis drei Stunden. Abends schlafe ich um acht ein, dann kann man mit mir auch nicht mehr diskutieren. Aber ich schreibe auch nicht so oft. Sechs Wochen, länger brauche ich effektiv nicht für ein Buch und redigieren und überarbeiten kann ich jederzeit. Dafür muss ich nicht früh raus. Das brauche ich rein für das Kreative.

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Müssen Selbständige denn keine Miete zahlen, ein Auto finanzieren oder Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel kaufen, Arztrechnungen bezahlen, …
Viele Aufträge anzunehmen bedeutet ja nicht zwangsweise Geldgier. Alles wird immer teurer oder nicht?

Richtig. Ich “darf” das auch. Mein Mann “lässt” mich schreiben so oft und so lange, wie ich möchte. Mich hatte in erster Linie das Wort “Zeitfenster” gestört.
“Du, Schatz. Sollen wir spazieren gehen?”
“Moment. Ich muss mal eben in den Kalender gucken. – Tut mir leid. Hier steht nichts von einem Termin mit dir.”
Ist natürlich völlig übertrieben, damit klar wird, was ich meine. Deshalb hatte ich in meinem Post weiter oben auch von Spontanität geschrieben. @Pamina22 legt Wert auf einen durchstrukturierten Tag. Ich hingegen sehe zu viele Strukturen als persönliches Gefängnis an.
Da die Dinge für jeden dermaßen unterschiedlich sind, geht keine der Antworten in die falsche Richtung, liebe @Unbefleckte .

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Das “mit dem Schreiben” ist für die Umgebung wesentlich abstrakter, als wenn man z.B. Bilder malen oder in einem Chor singen würde. Da kann man kurzfristig Resultate vorweisen, was ein Mansukript überhaupt nicht erfüllt.
Ansonsten sehe ich es ähnlich wie “Unbefleckte”. Allerdings habe ich das Glück, dass meine Frau mich am Computer in Ruhe lässt. Wir beide wissen aber auch, dass es gemeinsame Zeiten geben muss und das bekommen wir gut hin.
Ich persönlich halte es für zweifelhaft, in einer Selbstständigkeit auch noch einem (zeitraubenden) Hobby nachzugehen, falls man mit seinem Beruf bestimmte Ziele verfolgt oder gar erfüllen muss. Deshalb betreiben viele Autoren das Schreiben nach ihrem Angestelltenjob, um eben den Rücken freizuhaben.
Bei manchen Autoren kommt Ernüchterung auf, wenn das Lieblingshobby zum Job wird/werden muss. Ich hatte letztens für eine kurze Spanne Kurzarbeit und es war, ehrlich gesagt, gleich nach der Quarantäne Anfangs des Jahres, die beste Zeit zum Schreiben. Ohne jeglichen Druck gab es die Möglichkeit, zu lesen, zu schreiben, sich mal intensiv mit Aspekten auseinandersetzen, aber auch Ruhezeiten. Der Nachteil: Es gab praktisch kein persönliches Umfeld, alles lief nur über WA oder FB und das wiederum ist ungewohnt, wenn man ansonsten täglich von mehreren Dutzend Menschen umgeben ist.

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Ich hatte mal einen Angestelltenjob, der mir Null Freiraum gelassen hat. Aufstehen, arbeiten, ins Bett gehen … Fast 20 Jahre lang. Dann habe ich die Notbremse gezogen. Angestellt zu sein ist kein Garant für Freizeit.
Selbständigkeit ist keine Verbannung jeglicher (zeitraubender) Hobbys.

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Ja.

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