Eine Weihnachtsgeschichte in der Weihnachtsgeschichte ...

Ja, es liegt wieder da, wie an den vorangegangenen Tagen. Das Bündel Mensch auf dem Bahnhofsvorplatz.

Ein Mensch, an dem alles grau und traurig anzusehen ist. Die Augen scheinen vor langer Zeit schon gestorben. Der Körper nur ein kaltes, in Lumpen gehülltes Etwas. Ein Obdachloser, wie man ihn überall an den Bahnhöfen dieser Welt findet.

Ein schäbiger Filzhut mit einigen Kupfermünzen darin liegt vor seinen, in löchriges Schuhwerk gehüllten Füßen. Die Reisenden eilen an ihm vorbei. Niemand nimmt ihn wahr. Er ist für sie nicht da. Ein lästiges, aber zu umgehendes Hindernis, nicht mehr.

Und der, dies beobachtet, was ist mit dem? Sitzt auch er auf kaltem Pflaster? In eine dünne Decke gehüllt, die gegen die Niedrigtemperaturen nicht schütz? Ist er auch nur ein Hindernis für die Passanten?

Nein, er ist ein Beobachter aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, die keinen Hunger, Frieren oder Armut kennt.

Und weil es ihm so sehr besser geht beschleicht ihn ein großes Unbehagen. Ein Gefühl der Scham, wenn er dieses Elend dort in klirrender Kälte liegen sieht. Ohne Essen, ohne Unterkunft oder Zukunft. Ob dieser, vom Schicksal nicht begünstigte, Mensch an etwas glaubt in dieser Welt?

Der Beobachter selbst saß vor wenigen Minuten behaglich an dem reichlich gedeckten Frühstücksbuffet eines Luxushotels. In der Tageszeitung las er auf der ersten Seite den Aufmacher.

“Gibt es einen Weihnachtsmann?”

Es ist eine berührende Geschichte und er hält die Zeitung noch in der Hand, als er vor dem Bahnhof steht und der Gedanke kommt, sie Ihm, dem Obdachlosen, zum Lesen zu geben. Vielleicht würde der sich an dieser ergreifenden Geschichte etwas erwärmen können.

Der Beobachter nimmt die Seite mit dem Artikel und legt sie sorgfältig zusammen. Aber wie kann er sie, ohne Aufsehen zu erregen, überreichen?

Ansprechen mag er den Geplagten nicht, da geniert er sich. Und so steht er unschlüssig herum und wartet auf eine passende Gelegenheit.

Einen Augenblick nur ist der Bahnhofsvorplatz leer; Zeit zu handeln. Wenige Schritte führen den Beobachter zu dem Lagerplatz des Obdachlosen. Er beugt sich hinunter und legt die gefaltete Zeitungsseite vor seine Füße. Ohne sich weiter umzuschauen, einem ertappten Dieb gleich, hastet er davon.

Auf keinen Fall will er angesprochen werden und so verbirgt er sich in einem Torbogen. Aus diesem Versteck heraus kann er sehen, wie der Erbarmungswürdige mit klammen Fingern die Zeitungsseite auseinanderfaltet und zu lesen beginnt.

“Es ist die zeitlose Antwort auf die alte Kinderfrage:
Gibt es einen Weihnachtsmann?”

Die achtjährige Virginia o´Hanlon aus New York wollte es ganz genau wissen. Darum schrieb sie an die Tageszeitung “Sun” einen Brief:

"Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der “Sun” steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virgina O´Hanlon

Die Sache war dem Chefredakteur Francis Church so wichtig, daß er selber antwortete - auf der Titelseite der “Sun”:

"Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen: sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kinde gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.

Ja Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiß wie die Liebe und Großherzigkeit und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein.
Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe!

Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie - gar nichts, was das Leben erträglicher macht. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müßte verlöschen.

Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du den Märchen auch nicht glauben. Gewiß. Du könntest Deinen Papa bitten, er soll am Heiligen Abend Leute ausschicken. Den Weihnachtsmann zu fangen und keiner von ihm bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht - was würde das beweisen?

Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweißt gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie. An all die Wunder zu denken - geschweige denn sie zu sehen - das vermag nicht der Klügste auf der Welt.

Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter.

Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die Gewalt auf der Welt zerreißen kann… Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften.

Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter, auf einmal zu erkennen sein.

“Ist das denn auch wahr” kannst Du fragen. Virginia., nichts auf der Welt ist wahrer und nichts beständiger.

Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehnmal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.

Frohe Weihnacht, Virginia.
Dein Francis Church"

PS:
Der Briefwechsel zwischen Virginia O´Hanlon und Francis P. Church stammt aus dem Jahr 1897, ist also über 100 Jahre alt: Er wurde über ein halbes Jahrhundert - bis zur Einstellung der “Sun” im Jahr 1950 - alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite dieser Zeitung abgedruckt.


Der Obdachlose lässt die Zeitungsseite sinken und bemerkt erst jetzt, dass etwas aus der Zeitung herausgefallen ist. Ein kleines buntes Stück Papier liegt vor seinen löchrigen Schuhen.

Ein bedrucktes Etwas mit einer Ziffer darauf. Einer Zahl mit einer Eins und vielen Nullen. Seine schmutzigen Finger greifen danach und ungläubiges Staunen überzieht sein graues Gesicht. Die Augen beginnen zu strahlen und blicken suchend umher.

Aber dort, wo der Beobachter eben noch stand, steht niemand mehr.

Epilog
Diese Begegnung fand im Winter 1998 vor dem Luxemburger Hauptbahnhof statt.
Der Beobachter war ein deutscher Multimillionär nicht ahnend, dass er Jahre später
selbst einmal mittellos an diesem Bahnhofvorplatz sitzen würde …*