Hallo, ich bin Anlo, neu hier und möchte mich kurz vorstellen

vor einiger Zeit habe ich begonnen über meine Kindheit und Jugend zuschreiben. Es ist unglaublich spannend, Vergleiche ziehen zu können, zwischen damals und heute.
Meine Geschichte spielt in der Zeit zwischen 1960 und 1968 in einer kleinen Stadt in Rheinhessen (damals ca. 6000 Einwohner)

Ich beschreibe die damalige Zeit, die so verschieden von der Heutigen ist. Die Mädchen hatten in der Wahrnehmung der Gesellschaft eine völlig andere Stellung als es heute üblich ist.

Ich lasse „Anne“ selbst erzählen: von ihren Ängsten, der Schule, von ihren Träumen und ihren Aktivitäten.
Von ihren Brüdern und der Familie. Von guten und schlechten Nachbarn. Und nicht zuletzt, von den Freundinnen und Freunden, die ihre Kindheit und Jugend so reich gemacht haben.

Meine Erinnerung umfasst zahlreiche Anekdoten und Begebenheiten, die sich damals so zu getragen haben.
Meine Ernteeinsätze bei den Bauern, das erste selbstverdiente Geld, an so vieles erinnere ich mich und habe es niedergeschrieben.

Das Freizeitverhalten, die Pflichten und auch die phantastischen Freiheiten, die die Kinder dieser Zeit erlebten, kommen auch zur Sprache.
Ich schreibe über Freundschaften und die Lebensumstände, die manchmal mehr als „einfach“ waren.

Skizziere Menschen, traumatisiert vom Krieg, die Wohnungsnot und die Schwierigkeiten mit denen die Menschen in der Nachkriegszeit zu kämpfen hatten.
Uvm…

Ansonsten bin ich Mitglied in einer “Schreibstube”, schreibe Kurzgeschichten und Beiträge für das Heimatjahrbuch.

Ach ja, so langsam keimt auch der Gedanke, über “Annes” späteres Leben zu schreiben…

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Hallo Anlo. Herzlich willkommen und viel Spaß hier!

Auch von mir ein herzliches Willkommen. Das scheint ja interessant zu werden.

Sei auch von mir „herzlich willkommen“ geheißen, Anlo. Vielleicht bringst Du ein Textbeispiel ein? Würde mich freuen…

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Hallo Anlo,

willkommen im Forum.

Deine Ausführungen erinnern mich an das Buch von meinem Vater. Er schrieb auch über seine Kindheit- und Jugenderinnerungen . Ich habe mal eine Textprobe eingestellt. Die Kritiken könnten Dir helfen, dass Du nicht die gleichen Fehler machst wie mein Vater. Dann kannst Du Dein Buch an die heutigen Lesegewohnheiten anpassen.

https://www.papyrus.de/forum/threads/Überarbeitung-eines-romans.7592/

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Dito! Und willkommen auch von mir. Klingt wie ein interessanter Stoff. Nichts ist spannender als menschliches Verhalten und seltsame Strukturen, die wir heute mit verdrehten Augen betrachten.

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Vielen Dank für die freundliche Aufnahme hier im Forum.
Hätte niemals gedacht, dass mein Thema auf Interesse stößt. Gerne stelle ich 2 verschiedene Abschnitte meiner bisherigen Arbeit ein.
Der Titel lautet: Wenn ich groß in, ziehe ich in die Stadt

Ich muss Euch allerdings vorwarnen:
Druckreif bearbeitet ist der Text noch nicht.

Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen und würde mich über viele Meinungsäußerungen freuen!!!

  1. Unliebsame Aufträge

Wie jeder andere hat Anne Pflichten. In ihrer Wahrnehmung sind es Unmengen an Aufgaben, die sie zu erledigen hat. Ständig beschwert sie sich, dass die Brüder bei der Verteilung der Arbeiten besser weggekommen sind, wie sie.
Die Litanei, in der sie ihre Verrichtungen aufzählt, wird jeden Tag länger. Alle Kleinigkeiten werden akribisch aufgelistet.

Oftmals, immer dann, wenn ihr die Arbeiten zu viel werden, und das ist nicht selten, schreit sie: »Wenn ich groß bin, ziehe ich in die Stadt, und kaufe mir, alles was ich brauche, im Supermarkt«.
Ihre regelmäßigen Ausbrüche lassen Annes Mutter völlig kalt.
Spöttisch entgegnet sie: »Bis dahin fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter«.

Immer wieder die dummen Sprüche, denkt sie verärgert. Jedes Mal komme ich nicht umhin, mir dieses Gewäsch anzuhören.

Nach einem kurzen Blick in das unheilverkündende Gesicht der Mutter, verkneift sie sich heute lieber die frechen Kommentare, die ihr auf der Zunge liegen.
Es ist bekanntlich schon vorgekommen, dass die verbalen Entgleisungen Sanktionen verursacht haben, die sich als sehr langwierig und schwerwiegend herausgestellt haben.
Ungern erinnert sich Anne an die Sache mit den Johannisbeeren.
Die Mutter hatte ihr einen kleinen Eimer in die Hand gedrückt und ihr aufgetragen, diesen mit den roten Früchten zu füllen. Für das Abendessen hatte sie 2 verschiedene Sorten Pudding mit eingezuckerten Beeren geplant.
So ein Unglück. Ausgerechnet heute zeigte sich das Wetter von seiner schönsten Seite. Anne war mit Gundi zum Schwimmen verabredet. Ein Blick auf die Uhr wies sie daraufhin, dass sie den ausgemachten Termin nicht einzuhalten vermochte.
«Wenn ich groß bin, ziehe ich in die Stadt und kaufe mir alles was ich brauche im Supermarkt», murrte sie damals lautstark vor sich hin.
Klar, mach das, mit Geld ist vieles zu erwerben, insofern man es hat, lachte die Mutter und erinnerte Anne daran, dass es ihr erst dann erlaubt ist zum Schwimmbad zu gehen, wenn sie genügend Johannisbeeren gepflückt hat.
Bevor sie das Haus verließ, fügte sie überflüssigerweise hinzu: «Je früher du mit der Arbeit anfängt, desto schneller bist du damit fertig.»
Leise vor sich hinschimpfend nahm Anne die ungeliebte Plackerei auf. Das Eimerchen war zu einem Drittel gefüllt, da stand Gundi schon im Garten.
«Wieso um Himmels pflückst du Beeren? Es ist so heiß heute. Das kannst du doch ein anderes mal machen», rief die Freundin und zerrte an Annes Arm.
«Das ist leider nicht möglich. Meine Mutter hat angeordnet, dass pünktlich um 17 Uhr der Eimer randvoll mit Früchten gefüllt, auf dem Küchentisch zu stehen hat.»

Die Vorstellung, ihre Zeit alleine im Schwimmbad zu verbringen, behagte der Freundin nicht.
Die Lösung dieses Problems hatte sie gleich parat. Sie ist für ihre Geistesblitze berüchtigt, die sich zuerst immer sehr verlockend und vielversprechend anhören. Leider zeigte sich oft im Nachhinein, dass die zündenden Ideen nicht bis zum Ende durchdacht, und völlig undurchführbar waren.
So war es auch diesmal.
Sie unterbreitete Anne den Vorschlag, dass sie jetzt gleich schwimmen könnten, wenn sie gegen vier, das Schwimmbad vorzeitig verlassen, um gemeinsam die fehlenden Johannisbeeren abzuernten.
Bis die Mutter der Freundin um fünf nach Hause käme, stände, wie von ihr gefordert, ein prall voller Eimer mit Beeren auf dem Küchentisch.
Anne überlegte rasch und folgte Gundis Empfehlung bereitwillig. Leider hatten die Mädchen vergessen, vorher den lieben Petrus nach seinen Plänen zu fragen.
Dem fiel leider kurz vor vier ein, dass die Natur dringend Regen benötigt, und schickte einen ergiebigen Landregen auf die Erde.
Als die Freundinnen im Garten ankamen, stand der Eimer, noch an der gleichen Stelle unter dem Johannisbeerstrauch. Nur mit dem Unterschied, dass er zusätzlich zu der geringen Menge an Beeren, voll mit Regenwasser war.
Es schüttete wie aus Kübeln, sodass es nicht mehr möglich war, die fehlende Früchte zu ergänzen.
Die kümmerliche Ausbeute wurde unter den Familienmitgliedern gerecht verteilt. Anne erhielt keinen Anteil.
Dafür folgte eine Strafe auf dem Fuße.
Am nächsten Tag war wieder schönstes Schwimmbad Wetter.
Leider hatte sie nichts davon, da die Mutter aufgrund der gestrigen Vorkommnisse, der unfolgsamen Tochter Besuche im Schwimmbad bis auf weiteres gestrichen hatte.

Vorsorglich hält sie in Erinnerung an das unliebsame Ereignis diesmal ihren frechen Mund und leidet still vor sich hin.
Die anschließende Bemerkung der Mutter, dass sie die Erste wäre, die sich im Winter auf ein Stück Kuchen freut, dass mit Obst belegt ist, findet sie absolut überflüssig und zusätzlich noch ein bisschen gemein.
Sie unterdrückt es zu fragen, wo sich denn zur Zeit ihre Brüder rum treiben. Und warum die beiden nicht helfen. Die äßen doch auch Obstkuchen im Winter.
Die Antwort darauf gibt sie sich gleich selbst. Die Begründung ist eh stets dieselbe und vollkommen unsinnig: «Weil du ein Mädchen bist.»
Wie sie diese absurde Aussage hasst. Sie folgert daraus, dass Frauen in einer von Männern dominierten Welt, mit Sklavinnen gleichzusetzen sind.
Ihre rebellischen Gedanken verbirgt sie umsichtig seit langer Zeit. Einzig mit Claudia diskutiert sie ihre Überzeugungen heftig.
Diese ist ihr in der speziellen Angelegenheit so weit voraus.
Anne bewundert grenzenlos, wie die beste Freundin sich in das Unvermeidliche fügt, ohne zu meckern und zu motzen. Eine Charaktereigenschaft, die ihr völlig abgeht.
Denn sie debattiert und disputiert heftig über alles und nichts, solange, bis sie die Sinnhaftigkeit oder die Unsinnigkeit der Thematik erkannt hat.

Sich dann drein zuschicken, in das Unabwendbare, das dauert immer ewig bei ihr. So ist ihr Lebensweg steinig und mit allerlei Unwägbarkeiten gepflastert. Und sie erahnt, dass es so bleiben wird.
Innerlich gelobt sie sich immer wieder, wenn sie wegen der Meckerei eine Strafe erhalten hat, sich Claudia zum Vorbild zu nehmen. Die schafft es ja schließlich bravourös.
Sie ist um so vieles vernünftiger, erkennt Anne seufzend. Warum schaffe ich es nicht, mein loses Mundwerk zu halten.
Na ja, manchmal klappt es ja auch bei mir.
So wie heute. Unwillig arbeitet sie die ihr übertragenen Arbeiten ab. Dass sie mit der Entscheidung der Mutter nicht einverstanden ist, entnimmt man ihrem mürrischen Gesicht. Worin man meist zu lesen vermag, wie in einem offenen Buch.

Der Platz ist auf 10000 Zeichen beschränkt. Deshalb die weiteren Nachrichten

  1. Spielplatz

Anne hat sich mit ihrer Freundin Claudia zu einem Streifzug durch die Gemarkung verabredet.
Wie immer haben sie vereinbart, sich auf dem Spielplatz hinter der Kirche zu treffen.
Anne ist schon längst da. Sie sitzt gedankenversunken auf den Stufen des ehrwürdigen Denkmals für die Gefallenen des Deutsch-französischen Krieges von 1870/1871 und wartet auf die Freundin.
Es ist ein imposanter Bau aus hellem Sandstein. Auf einem zweistufigen Podest steht eine hohe, quadratische Säule, auf der an allen Seiten Tafeln aus schwarzem Marmor eingelassen sind.
Vier Stelen, die das Dach in Form eines Kreuzes tragen, vervollständigen das eindrucksvolle Mahnmal.
Wie so oft versucht sie, die Namen auf den Gedenktafeln zu entziffern. Aber Sonne, Regen, Wind, Wetter und nicht zuletzt die Zeit, haben die Eingravierungen bis zur Unkenntlichkeit verwittern lassen.
Einige sind ausgezeichnet lesbar. Es sind alles Namen von ortsansässigen Familien. Hinter jeder Bezeichnung steht das mit einem Stern versehene Geburtsdatum. Der Todeszeitpunkt ist gekennzeichnet mit einem Kreuz.
Was von den Soldaten blieb, ist der in den Marmor gefräste Todestag. Nicht mehr, nicht weniger. Aber für die betroffenen Familien ist genau dieser Tag, der Beginn eines immerwährenden Albtraumes.
Das Ende der Hoffnung, auf eine glückliche und gesunde Heimkehr.
Die erschreckende, unumkehrbare Gewissheit, dass der so siegesgewiss in den Krieg gezogene Sohn, Bruder, Vater, Ehemann nicht zurückkommt. Nie mehr!
Wie immer läuft Anne beim Lesen ein Schauer über den Rücken. Kennt sie doch einige Nachkommen der Gefallenen aus den Erzählungen der Großeltern.
Und fortwährend fragt sie sich, ob der Tod für die Soldaten die Erlösung aus einem entfesselten Inferno war, oder das Ende, eines so hoffnungsvoll begonnenen Lebens, das nach den grausamen Kriegserlebnissen, nie mehr verheißungsvoll gewesen wäre.
Genau genommen ist nur der vordere Teil der Anlage ein Spielplatz.
Gleich am Eingang rechts findet sich, die heiß umkämpfte, ständig besetzte Schaukel, ein großer runder Kletterturm und ein drehbares Karussell.
Auf der anderen Seite gibt einen riesigen Sandkasten, eine Rutschbahn, ein weiteres Karussell und ein kleines Klettergerüst für ausgesprochen mutige Kletterkünstler.
Laut lärmend fallen die Kinder des Ortes jeden Nachmittag in Horden ein und nehmen die Spielgeräte in Beschlag, sodass der selbst ernannte Aufseher des Spielplatzes immer wieder mahnend einschreitet.
Er wohnt direkt gegenüber und verbringt die meiste Zeit des Tages, sitzend und zusätzlich auf seinen Krückstock gestützt, in seinem Garten. Den Blick immer lauernd auf den Spielplatz gerichtet.
Die Kinder nennen ihn nur „den Dicken Schmitt“. Für sie ist der «Dicke Schmitt» ein Relikt aus einem anderen Jahrhundert und uralt.
Er hat einen Bauch wie ein Weinfass, über den sich ein helles Hemd mit einem Stehkragen spannt. Die Hose ist bis an die Brust hochgezogen und wird von zwei breiten, ledernen Hosenträgern gehalten.
Auf dem Kopf trägt er tagaus, tagein eine Prinz Heinrich Mütze. Die unvermeidliche Pfeife in seinem Mund und der Kaiser Wilhelm Bart darüber, vervollständigen das Bild von dem dicken Bahnhofsvorsteher aus Annes Märchenbuch.
Wenn er sieht und hört, dass die Rangeleien unter den Buben und der Lärmpegel außer Kontrolle geraten, steht der Alte schwer fällig auf, fuchtelt wild drohend mit seinem Stock in der Luft herum und schreit mit dröhnender Stimme:
»Ich kenne euch alle, ihr Rotzlöffel. Ich weiß, wer ihr seid und wo ihr wohnt. Ich kenne euren Vater und Eure Mutter.
Mit euren Opa bin ich zur Schule gegangen. Passt nur auf ihr Hosenscheißer. Mit euren Großvätern treffe ich mich heute Abend im Ochsen. Und dann erzähle ich, welch eine Saubande ihr seid. Und die sagen es euren Vätern. Und dann setzt es was zu Hause«.
Nach seinem großen, bühnenreifen Auftritt schnauft er wie eine fette Gans und plumpst erschöpft von der Anstrengung zurück auf seinen wackeligen Stuhl. Alle warten, dass er eines Tages damit rückwärts umfällt und dann auf dem Rücken liegt wie ein Stinkkäfer.
Grinsend schauen sich die Gescholtenen an und schalten kurzzeitig einen Gang zurück. Aber niemand kommt auf den Gedanken, zu widersprechen, oder gar sich daheim über den «Dicken Schmitt» zu beschweren.
Haben doch grundsätzlich die Alten das Recht, die Jüngeren in die Schranken zu weisen. Deshalb trollt sich die ganze Bande und das muntere Treiben nimmt unvermindert seinen Fortgang.
Durch das von Büschen und Bäumen gesäumte Areal führt ein schnurgerader Weg, der die Fläche exakt in zwei gleiche Hälften teilt. Am Ende dieses Weges steht das ehrwürdige Denkmal, auf dessen Stufen Anne wartend sitzt.
Hinter den Spielgeräten schirmt eine halbhohe Ligusterhecke den ruhigeren Teil mit seinen großen Rasenflächen von dem quirligen Treiben ab.
Dahinter auf der rechten Seite steht das Ehrenmal aus rotem Buntsandstein für die im 1. Weltkrieg gefallenen Söhne der kleinen Stadt. Selbst hier hat die Zeit Ihre Spuren hinterlassen und viele der eingravierten Namen sind schwer lesbar.
Trotzdem erkennt man hin und wieder die gleichen Familiennamen wie auf dem Denkmal für die toten Soldaten des Deutsch-französischen Krieges.
Nur die Vornamen sind anders. Anne wundert sich, dass die Menschen schon nach 43 Jahren scheinbar vergessen hatten, welches Leid ein bewaffneter Konflikt mit sich bringt.
Ursprünglich war das weitläufige Gelände ein Friedhof, der aber vor Jahrzehnten aufgegeben wurde.
Der kleine Gottesacker innerhalb der alten, historischen Stadtmauer reichte in der Vergangenheit nicht mehr aus, um all die Verstorbenen des aufstrebenden Städtchens aufzunehmen. Die Stadtväter ließen deshalb außerhalb der Mauern einen neuen Begräbnisplatz anlegen.
Der Alte Friedhof wurde zur Freude der Kinder in einen Spielplatz umgewandelt.
Anne erinnert sich mit gemischten Gefühlen an die Bauarbeiten in den vorjährigen Sommermonaten. Zuerst wurde das verwilderte Terrain gerodet, die zerbrochenen Grabsteine entsorgt und alle Gräber eingeebnet, die aber immer wieder in sich zusammen brachen.
Dass das Gelände, auf dem der Alte Friedhof beheimatet ist, seit dem Mittelalter mit unterirdischen Gängen unterhöhlt ist, weiß in Pfeddersheim jedes Kind.
Es waren ursprünglich mal Fluchtwege, die alle unter der Stadtmauer hindurch zum Kloster St. Georgenberg führten, das außerhalb des Städtchens angesiedelt war, und bei Gefahr den Bürgern Schutz und Asyl bot.
Zum Leidwesen der Kinder gibt es von der Abtei keine Überreste mehr. Nur anhand von alten Aufzeichnungen vermochte man den Ort zu bestimmen, an dem es in grauer Vorzeit gestanden hätte.
Fast alle Anwesen und Gebäude im Umfeld der beiden Kirchen und der Stadtmauer haben in ihren Kellergewölben Eingänge zu den unterirdischen Gängen. Die meisten sind aus Sicherheitsgründen zu gemauert. Sogar in dem Haus, in dem Anne und ihre Familie wohnt, gibt es einen Zugang zu dem Tunnelsystem.
Die Kinder gäben sonst was dafür, könnten sie diesen Gang erforschen. Aber das Väterchen hat den Eingang vorbildlich gesichert und zusätzlich mit vollgestellten Regalen blockiert.

Entgegen dem ausdrücklichen Verbot der Mutter begaben sich die Geschwister jeden Tag zur Baustelle, wohnen sie doch nur ca. 100 m davon entfernt.
Die Knochenfunde, die Fragmente der alten Grabsteine, die Löcher, die einen Blick in die Unterwelt längst vergangener Zeiten ermöglichten, zogen die Kinder magnetisch an. Zusammen mit Ihrem großen Bruder trieb sie sich oft auf dem Gelände herum.
Jedes Stück Knochen, jegliche Holzsplitter wurde genauestes befingert und begutachtet.
Die bei den Umbauarbeiten zahlreich gefundenen, menschlichen Knochen wurden akribisch in Kisten gesammelt und später mit einer katholisch-evangelischen Zeremonie feierlich auf dem neuen Friedhof beigesetzt.
Annes Ausflug in die Archäologie endete abrupt, nachdem sie die roten, heftig juckenden Flecken an ihren Unterschenkeln bemerkte.
Bis sie zuhause ankam, waren Beine und Arme mit Pusteln übersät und blutig vom Kratzen. Weinend ließ sie die berechtigten Vorhaltungen ihrer Mutter über sich ergehen. Glücklicherweise kam in diesem Augenblick Annes Oma zu Besuch und übernahm sofort das Regiment.
Nach einem kurzen, fachmännischen Blick auf die roten Flecken erkannte sie, dass es sich um Flohbisse handelte. Kurzerhand wurde der große Bruder in die Apotheke geschickt, um essigsaure Tonerde zu besorgen.
Laut maulend über die blöde Kuh mit den Flöhen zog er los. Aber erst, nachdem er sich infolge seines losen Mundwerkes, eine Ohrfeige von der resoluten Oma eingehandelt hatte.
Anne wurde komplett im Hof ausgezogen, in den Badezuber gesetzt und rigoros von Kopf bis Fuß abgeschrubbt. Sogar die Haare wurden gründlich eingeseift und igitt, vorsorglich mit Essigwasser nachgespült.
Die Kleidung wurde sofort in eine Lauge aus Kernseife eingeweicht.
Zwischenzeitlich war der unwillige Einkäufer mit der essigsauren Tonerde schon wieder eingetroffen.
Die kalten Umschläge mit Omas Allheilmittel wirkten Wunder, sodass Anne am nächsten Morgen zwar am ganzen Körper zerstochen, aber ohne Juckreiz wie gewohnt die Schule besuchen konnte.

…der Rest. Hoffentlich ist es Euch nicht zu viel…

Schon lange ist die Umgestaltung beendet und der Alte Friedhof präsentiert sich in einem neuen Gewand aus blühenden Büschen und Blumen.
Die beiden Mädchen lieben diesen stillen und friedlichen Winkel. Sind sie doch meistens hier alleine. Es ist so leise, dass man die Vögel singen hört. An diesem historischen Ort lässt der Wind das Laub in den Bäumen rascheln und auf dem Boden tanzen.

Rufend und winkend kommt endlich Claudia und holt Anne zurück in die Wirklichkeit.

Sie ist für ihr Alter unverhältnismäßig groß, hat lange blonde Zöpfe und ist durchaus eine richtige junge Dame.
Die Freundin ist das genaue Gegenteil. Sie ist klein, hat dunkle, kurze Haare und ist eher Knabe wie Mädchen.
Zu Annes Leidwesen wird Ihre Mutter nicht müde zu bemerken, dass an ihr sieben Buben verloren gegangen sind.
So grundverschieden die Freundinnen rein äußerlich sind, so ähnlich sind sie sich im Inneren. Sie sind seelenverwandt und jede ist der Spiegel der anderen. Es ist eine seltene und kostbare Freundschaft, die die beiden verbindet.
Sie lieben es gemeinsam durch die Felder, Wiesen und Weinberge zu streifen. Die Tiere zu beobachten und die zahlreichen Blumen und Pflanzen mit Namen zu benennen. In dem offenen, übersichtlichen Gelände kennen sie sich bestens aus.
Zur Orientierung dient ihnen der Kirchturm, der schon von weitem mühelos sichtbar, den Weg zurück in den Ort weist.
Erwartungsvoll laufen sie los. Folgen den, von Pferdefuhrwerken und Traktoren ausgefahren Feldwegen, in nördliche Richtung. Der Weg führt leicht bergan. Vorbei an Weinbergen, abgeernteten Getreidefeldern und endlosen Dick- und Zuckerrübenfeldern, die erst im Spätherbst geerntet werden.

Oben angekommen ist der Blick vom Plateau über das Land der tausend Hügel grandios:
Im Osten die sanften Hänge des Odenwalds, im Westen die Haardt, dem weithin sichtbaren Donnersberg mit dem hohen Funkturm, im Süden die rauchenden Schornsteine der Anilin und Soda Fabrik und im Norden das rheinhessische Hügelland. Vor den Augen der Mädchen breitet sich die fruchtbare, oberrheinische Tiefebene wie ein riesiger, farbiger Flickenteppich aus.
Die Blätter der Weinreben erscheinen im Hellen, die großblättrigen Rübenblätter dagegen im dunklen Grün.
Daneben brachliegende Felder in einem satten Braun. Die abgeernteten Getreidefelder verschönern den Boden mit ihren hellen Stoppeln.
Hier und dort blühen vereinzelt Feldblumen. Sie sind weithin sichtbar in der Gestalt von gelben, blauen, roten und weißen Farbtupfern.
Darüber wölbt sich ein strahlend azurblauer Himmel bis an den Horizont. Doch langsam werden die Schatten länger und mahnen die Mädchen an, sich auf den Rückweg zu begeben.
Sie wenden sich in östliche Richtung und laufen auf der anderen Seite des Feldes zurück in den Ort. Die Turmuhr schlägt 6-mal, exakt in dem Moment, da die beiden vor dem Spielplatz angekommen sind.
Für eine kurze Zeitspanne trennen sie sich und laufen nach Hause.
In zirka 1 Stunde werden sich die Freundinnen genau hier wieder treffen um gemeinsam, frische Milch beim Bauern zu holen.
Sie werden wie jeden Abend, trödeln, sich überaus Wichtiges berichten und weil sie wieder einmal absichtlich zu lange unterwegs waren, zuhause erzählen, dass die Bäuerin nicht mit dem Melken fertig war.

Liebe Anlo,
vielen Dank, dass Du uns Dein Vertrauen schenkst und dass wir Deine Texte lesen dürfen.
Hier kommen meine Anmerkungen und Gedanken zu Deinem Text. Ach ja, da man hier im Forum nichts durchstreichen kann, unterstreiche ich die Textstellen, die ich sonst durchstreichen würde.

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Liebe Anlo,
den Rest Deines Textes habe ich jetzt auch gelesen, werde ihn aber nicht mehr so genau kommentieren wie den Anfang, da sich die meisten Anmerkungen hier wiederholen würden.
Du schneidest hier einige interessante Punkte an, z.B. die Überlegungen zu den gefallenen Soldaten, den Spielplatz, den Dicken Schmitt und andere Unternehmungen von Anne und ihrer Freundin. Jede für sich genommen, ist zunächst spannend. (Wobei ich mich auch bei den Überlegungen zu den Soldaten und dem Krieg wieder gefragt habe, wie alt Anne ist.)
Allerdings vermisse ich einen übergeordneten Spannungsbogen, der all diese Erlebnisse miteinander verbindet.
Ein solcher Spannungsbogen ist notwendig, wenn Du die Aufmerksamkeit des Lesers über einen längeren Zeitraum fesseln willst. Der Leser muss verstehen, warum die Figuren so handeln wie sie es tun. Sonst hat man das Gefühl, die Handlung plätschere ziellos vor sich hin.
Dies erreichst Du dadurch, dass Du Deiner Hauptfigur in jeder Szene ein eindeutiges Ziel gibst, das sie um jeden Preis erreichen will. Das muss gar nichts Dramatisches sein, aber es sollte der Figur wichtig sein. Und dann brauchst Du einen Konflikt, der dieses Ziel zu durchkreuzen droht.
Zum Beispiel könnte Annes Ziel darin bestehen, ihre Freundin auf dem Spielplatz zu treffen, am besten zu einer bestimmten Uhrzeit. Dieses Ziel ist Anne wichtig, weil sie als verlässlich gelten und ihre Freundin nicht versetzen will. Sie möchte sie auch nicht unnötig warten lassen. So hättest Du Ziel und Motivation definiert.
Jetzt kommt der Konflikt. Ich weiß nicht genug über den Dicken Schmitt, deswegen fabuliere ich einfach. Er mag keine Kinder und schimpft immer über sie. Anne hat ein wenig Angst vor ihm. Als sie ihm begegnet, schimpft er auf sie ein und lässt sie nicht durch. Vielleicht gibt er ihr die Schuld an einem Vorfall, mit dem sie gar nichts zu tun hat. Aber das ist dem Dicken Schmitt egal. In seinen Augen sind alle Kinder an allem schuld.
Sie muss aber an ihm vorbei, um rechtzeitig auf dem Spielplatz zu sein. (Man könnte die Situation noch dramatischer machen, indem man den Dicken Schmitt nicht nur harmlose Drohungen aussprechen, sondern Anne auch zu nahe treten lässt. Vielleicht will er sie küssen? Keine Ahnung, ob das in Deine Geschichte passen würde.) Wichtig ist, dass es einen Konflikt gibt, der Annes Ziel zu durchkreuzen droht.
Am Ende der Szene gibt es den Ausgang. Erreicht Anne ihr Ziel doch noch? Wie windet sie sich aus der Situation heraus? Oder scheitert sie? Kommt sie zu spät zu der Verabredung und ihre Freundin ist schon weggegangen? Spielt jetzt lieber mit einem anderen Mädchen?
Das musst Du entscheiden. Du kannst Anne natürlich auch ein ganz anderes Ziel geben, eine andere Motivation, es zu erreichen, und einen anderen Konflikt kreieren. Aber all diese Aspekte gehören zu einem Spannungsbogen, mit dem Du die Aufmerksamkeit des Lesers längerfristig aufrechterhalten kannst. Und das ist ja unser Ziel, nicht wahr? Den Leser bei der Stange zu halten. Am liebsten so, dass er sämtliche Netflix-Serien über dem Lesen vergisst.

LG
Pamina

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Guten Morgen Pamina22,

vielen Dank, dass Du Dir solch eine große Mühe gemacht hast. Ich bin total überrascht, dass Du Zeit gefunden hast, für so viele Anmerkungen, Verbesserungsvorschläge, Tipps und, und…
Erklärungen:
die 3 Geschichten sind Teile einer Arbeit. Deshalb fehlen einige grundsätzliche Angaben, die in anderen Geschichten zu finden sind.
Anne war damals zwischen 8 und Jahre alt. Die Brüder 4-8, bzw. 11-14 Jahre.
Den Bezug zum Krieg ergibt sich aus meinem Jahrgang: 1953. Der 2. Weltkrieg war noch nicht so lange vorbei und meine Großeltern haben den 1. Weltkrieg auch erlebt. Eine Oma war 1888 geboren!!! Der Deutsch/Französische Krieg war 1870/1871. Da gab es schon noch den einen oder anderen “Kämpen”, der gefaselt hat: " damals 1870/1871 haben wir es den Franzmänner gezeigt"…
In jeder Familie gab es Söhne, Väter, Brüder, Verwandte, die nicht mehr aus dem Krieg zurückkamen. Auch in meiner Familie. Die Kriege waren immer ein Thema. Ich konnte als Kind nicht verstehen, warum man sich nur einige Jahre später, schon wieder die Köpfe einhaut…

Diskussionen mit der Mutter gab es nicht. Genauer gesagt: sie führten zu nichts. Widerreden waren nicht erwünscht. Es wurde angeordnet und die Kinder hatten zu folgen. Ich habe deshalb Claudia bewundert, weil sie “ihren Mund halten konnte”. Das konnte ich leider nicht. Deshalb hatte ich, weitaus öfters als sie, Hausarrest…
Spannend finde ich, dass Du mein Thema interessant findest. Das freut mich wirklich sehr, weil ich finde, dass sich der Alltag von den Kindern heute und von damals grundlegend unterscheidet. Das erkenne ich daran, dass Du anregst, die Diskussion mit meiner Mutter zu beschreiben. Wie gerne würde ich das tun. Aber es gab keine!!! Dass ich keine Johannisbeeren bekam, empfand ich nicht als Strafe, sondern als die Konsequenz, die sich aus meinem Verhalten ergab. Nach dem Motto: wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen…
Ein Tag Schwimmbadverbot war eine milde Strafe…
Ich werde den Text überarbeiten. Dabei werde ich mir Deine Denkanstöße zu Nutze machen.
Nochmals ganz herzlichen Dank für Deine Mühe.
Lb. Grüße
Anlo

Liebe Anlo,
alles, was Du erklärst, kann ich nachvollziehen. Aber trotzdem …

Zeig es trotzdem. Stell den Leser nicht vor vollendete Tatsachen. Zeige, dass Anne keine Möglichkeit hatte, gegen ihre Mutter anzukommen, und Du wirst den Leser ködern. Er kann sich dann in ihre Hilflosigkeit hineinversetzen und mit ihr mitfühlen.
Schreib szenisch! Show, don’t tell. Das ist eine der wichtigsten Regeln beim Schreiben.

Vorschlag: (Ich schreibe jetzt aus Annes Sicht und nicht aus der eines auktorialen Erzählers.)
„Nennst Du das einen Eimer voller Johannisbeeren?“ Mutter stützte eine Hand in die Hüfte und hielt den roten Eimer leicht schräg, um Anne den Inhalt zu zeigen. Die paar Beeren, die sie gepflückt hatte, schwammen in Regenwasser.
„Aber …“, hob Anne an.
Eine Ohrfeige klatschte gegen ihre Wange. „Schweig! Ich werde dich lehren, deine Pflichten zu vernachlässigen!“
„Das ist …“ … ungerecht, wollte Anne hinzufügen, doch unter Mutters strengem Blick senkte sie ihre Lider, biss sich auf die Lippe und verstummte. Claudia, dachte sie. Wie schaffst du es immer, ruhig zu bleiben? Ich möchte am liebsten schreien. Du nimmst alles hin. Ich wünschte, ich wäre wie du.

Auch hier habe ich keine Ahnung, ob das der Situation entspricht, die Du erzählen wolltest. Aber sie zeigt, wie hilflos Anne ist, anstatt es einfach nur zu sagen. Und das ist wichtig.

Ich weiß, dass das alles sauschwer ist. Aber im Grunde müsstest Du Deine Szenen so schreiben, dass all die Erklärungen über Deine Familie und die Umstände, in denen Du aufgewachsen bist, nicht mehr nötig sind. Die müsste man aus Deinem Roman herauslesen können.
Wir haben uns eben eines der schwierigsten Hobbys von allen ausgesucht … :slight_smile:

LG
Pamina

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Ich denke, ich verstehe, @Anlo, was du mit der Unmöglichkeit einer Diskussion meinst, deine Geschichten erinnern mich stark an die Erzählungen eines ähnlichen Jahrgangs.

In einer Erzählung, die mir zugetragen wurde, ging es darum, dass der Bruder immer einen Hühnchenschenkel bekam, die Schwester jedoch immer nur ein Flügelchen. Bei der versuchten Provokation eines Streits dazu, “warum bekommt er immer den Schenkel und ich nur den Flügel, wir geben beide gleich viel Geld ab”, winkte die Mutter ab, " Dann bekommst du halt noch meinen Flügel."
Dass es um die Gleichbehandlung ging, ging an der Mutter völlig vorbei, einen Streit, Diskussion, selbst Bestrafung zu provozieren, war unmöglich.

Oh NinaW, Du sprichst mir aus der Seele… ich denke auch, dass die Unterschiede zwischen “männlich und weiblich” einfach “normal” waren. Genauso “normal” war auch, dass der Vater, als Ernährer der kompletten Familie, das größte Stück Fleisch bekam…

Genau! Und das Salz musste auch immer korrekt vor ihm stehen.

Warst Du mal bei uns zuhause? :laughing: