Handlungsstränge und Erzählreihenfolge

Guten Abend,

schon fast seit Beginn meines Buches grübele ich über die Erzählreihenfolge nach, seit Papyrus noch mehr - und ich komme einfach nicht auf die Lösung. Nicht auf eine, die mich überzeugt. Was mich befürchten läßt, daß ich noch ein paar weitere Szenen für vorne schreiben muß, obwohl ich doch eigentlich endlich das letzte Viertel schreiben will - aber das wäre dann halt so.

Hier also die Ausgangslage (ich hoffe, es gelingt mir, das so darzustellen, daß es für Nichtkenner meiner Geschichte verständlich ist; schließlich kennt außer meinem Mann niemand alles davon):

  • Die Geschichte beginnt mit Mizú, die nach 16 Jahren einen Brief ihres Großvaters Leonardo erhält (wen’s interessiert: siehe Thread “Prolog” im Lesezirkel. Sie ist die Hauptfigur und somit dieser Teil der Geschichte Handlungsstrang Nummer 1. Eine für sie wichtige Nebenfigur ist F.
  • Es gibt gleich drei Antagonisten. Da wäre also a) M., dessen Ziel sozusagen die Perversion von Mizús Ziel ist. (Handlungsstrang 2).
  • Dann gibt es b) Fü., dessen Ziel das Gegenteil von Mizús Ziel ist. (Handlungsstrang 3).
  • Außerdem gibt es noch c) T., die Mutter von Mizú (Handlungsstrang 4). Ihr Ziel ist identisch mit Fü., aber aus komplett anderen Gründen.

Was das Ganze kompliziert macht, sind die zahlreichen Rückblenden, die fürs Verständnis der Charaktere notwendig sind. Und die einen guten Teil der gesamten Geschichte ausmachen (die zum Beginn des Buches schon vergangene Hintergrundgeschichte von T. umfaßt zum Beispiel insgesamt etwa 60 Seiten). Diese Rückblenden sind relevant, weil sie die Figuren charakterisieren und zeigen, warum sie sich heute (also in der Zeit des Mizú-Plots) wie verhalten und das auch genau so müssen. Nebenbei tragen sie auch ihren Teil zur Gesamtgeschichte bei :wink:

Chronologisch stellen sich diese **Rückblenden **so dar:

  • **Leonardo **hat eine für die Geschichte elementare Vergangenheit, ohne die es die Welt, in der die Geschichte spielt, so nicht geben würde. Sie schafft erst die Prämisse für die Ausgangssituation von Mizú.
  • Aus Leonardos Vorgeschichte ergibt sich die Vorgeschichte von** T**.
  • M. und F. haben eine gemeinsame Vorgeschichte (M. ist der einstige Ziehsohn von F.), die zum Teil in Rückblenden erzählt wird.
  • Nachdem sich die Wege von M. und F. getrennt haben, wird seine weitere Entwicklung noch beschrieben.

Und ich habe keine Ahnung, wann ich wie viel davon in welcher Reihenfolge erzählen soll. Folgendes habe ich überlegt:

  • Was ab der Briefübergabe passiert, könnte ich relativ einfach gegeneinander schneiden: Mizú jetzt, Antagonist 1 jetzt, Antagonist 2 jetzt, etc.
  • Aaaaber ich möchte ja auch noch die Rückblenden einbauen. Vermutlich jeweils unterteilt, damit die einzelnen Blöcke nicht zu lang werden - oder? Und wenn ich einzelne Vergangenheitsszenen einbaue: Muß ich das dann zwangsläufig in chronologischer Reihenfolge tun? Weil es sonst zu verwirrend wird?
  • Oder stelle ich einen Block Vorgeschichte voran (je nach erzählter Zeit also abwechselnd L., T., F. und M.) und springe dann zum Start der eigentlichen Geschichte? Aber fühlt sich das dann nicht eher an wie zwei Bücher in einem?

Sprich: Wann und wie baue ich Rückblenden ein, so daß ich Spannung erzeuge und Verständnis für die Figuren, ohne zu lange und zu weit vom Hauptstrang abzuweichen? Ich weiß, ohne die Geschichte zu kennen, ist das total schwierig. Allerdings ist es für mich, die ich sie ja nun mal kenne, so schwierig, daß ich hoffe, daß es in diesem Fall mit Distanzblick einfacher ist. Falls Ihr also Ideen habt, Vorstellungen, handwerkliche Tricks, Faustregeln: Ich nehme alles. Und sage schon jetzt: tausend Dank!

Eine Faustregel kann ich anbieten: need-to-know-basis; will sagen, der Leser bekommt das was er für das Verständnis braucht,
und nur das (!), und zwar immer dann, wenn er es braucht. Blöderweise ist der Schnitt ein Bereich künstlerischer Freiheit, Du kannst
also für jedes Modell beliebig viele Gegenbeispiele finden.

Aber wenn es sowieso zwei Bücher sind, wieso schreibst dann nicht einfach zwei Bücher?

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Liebe Buchling,

bei mir stellt sich diese Frage bei jedem Projekt, da ich sehr viel Wert auf “innere Monologe” und Vergegenwärting von Vergangenem lege, um das Präsentische aus je unterschiedlichen Perspektiven zu erhellen. M.A.n ist das ein Reflex auf die normale Lebensweise in Zeiten eines gewissen Handlungs- oder Entscheidungsdruckes: Welcher Mensch wäre da immerzu in eindeutig entscheidbaren Situationen, nie von Zweifeln angefochten, das je Richtige zu tun … usw. usf.?!
Ist der Autor in der – diesbezüglich – komfortablen Situation, so ein auf freien Assoziationen basierendes Konstrukt wie meine Tagebücher einer Namenlosen zu verfassen, kann er praktisch machen was er will, weil die Handlungsebene auch ganz manifest – und nicht nur reflexiv – von dem stark mitbestimmt wird, was “in der Birne” der Protagonistin vorgeht.

Anders bei dir. – Ich habe vor Jahren einen ziemlich umfangreichen (philosophischen) Kriminalroman geschrieben, bei dem längst vergangene Ereignisse – etwa wie schätzungsweise bei dir --, entscheidende Wirkung aufs jeweilige Jetzt entfalten. Und ich habe das Problem (wobei ich nicht wirklich ein Problem damit hatte: also eigentlich: die Methode) der Rückblenden auf zweierlei Art gelöst:

Einmal tatsächlich über Erinnerungen der betroffenen Protagonisten.

Andermal, indem ich ein Manuskript mit im Schwange sein ließ, dem sich wichtige vergangene Ereignisse entnehmen ließen, allerdings erstens literarisch verbrämt (es handelt sich um eine Romanmanuskript) und zweitens eigentlich für niemanden verfügbar: Der Zugang dreier Protagonisten erfolgt auf illegalem Weg, obwohl sie “die Guten” sind …

Die jeweilige Situierung der entsprechenden Vergangenheitsanteile habe ich gemäß des von @Füllwort angegebenen Schemas realisiert. Und geholfen hat mir die Idee, um die Wirrnis der insgesamt sehr komplexen Geschichte über die diversen Rückblenden nicht wuchern zu lassen, daß ich über (hauptsächlich) dialogische Szenen für jeweilige verstärkende Einbettung ins Leserbewußtsein sorgte: Also dergestalt, daß ich das, was den Rezipienten eventuell kurzfristig überfordern würde – etwa im Differenzierungsvermögen, diverse Beteiligte mit ihren jeweiligen “Eigenstories” betreffend – im präsentischen Geschehen zum Gesprächsgegenstand machte; gelegentlich auch bei den Gesprächspartnern mit Verwirrung kombiniert, die sich dann auflösen ließ.
Mir ist später aufgefallen, daß dieses Verfahren z.B. auch Fred Vargas gern eingesetzt hat: Wenn zwei (oder auch mehr) Haupt- oder “Neben”-Protagonisten" sich eines bestimmten Vorfalls oder bestimmter Informationen wegen nicht einig sind, ihnen ergo “aufgezwungen” wird, sie auszulegen, erhöht das die Chance des Rezipienten, den Überblick zu bewahren … will mir scheinen … – Entsprechendes* feedback* habe ich jedenfalls bekommen.

Wenn du die Kurzfassung willst: Spekulationen o.ä. über dies und das einfließen zu lassen, scheint mir ein guter Weg der manchmal erforderlichen Komplexitätsreduktion.

Hoffe, ein paar Nachdenkkerzen bei dir entzündet zu haben und wünsche kreatives Nachsinnen.

Gruß von Palinurus

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Da ich so schreibe, wie ich lese (von vorne nach hinten), ist die Frage leicht zu beantworten: Immer dann, wenn ich es brauche. Wenn es nötig ist. Oder wenn ich Lust dazu habe. Es gibt keinen Plan! Es ist dein Buch, deine Geschichte, was du entscheidest, geschieht. Und wenn du Lust hast, mach es, schreib die Rückblende in einem halben Satz oder in einem halben Buch. Es gibt da keine Patentrezepte. Nur langweilig soll es nicht sein, der Rest ist erlaubt.
Ich habe neun handelnde Personen, die aus der Innensicht schildern. In zwei Zeitebenen, einmal die Jetztzeit und einmal eine frühere (unbestimmte) Zeit, das kann drei Wochen her sein oder dreißig Jahre. Das spielt an mindestens einem Dutzend verschiedener Orte und falls ich es schaffe, dass der Leser weiß, was alles wann und wo passiert ist, wäre ich überglücklich. Aber meine Bücher funktionieren auch dann, wenn man das nicht so genau weiß oder es gar nicht so genau wissen will.

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Liebe Buchling,

so, wie du es hier schilderst, wirkt es schon etwas chaotisch (zumindest auf mich). Ich versuche auch immer, der klassischen Faustregel zu folgen: Erkläre etwas genau dann, wenn der Leser ohne nicht mehr durchblickt. Das klappt aber nur bei linearen Verläufen und ohne diverse Nebenstränge wirklich gut, bei über mehrere Zeitebenen ineinander verschachtelten Haupt- und Nebenplots kommt man damit trotzdem gerne und schnell mal ins Schleudern.

Rückblenden, vor allem längere und sehr viele, finde ich immer problematisch, viele Leser mögen die nicht, es wirkt gerne chaotisch und kann im schlimmsten Fall sogar Spannung nehmen. Kann alles, muss aber nicht, kommt halt immer drauf an, wie man das händelt.

In deinem Fall scheinen die Rückblenden wirklich nötig zu sein (und nicht etwa nur als Vehikel für irgendwelche Backstory-Elemente zu dienen). Wäre es möglich, dass du Mizù in der Jetztzeit den Brief bekommen lässt, dann in die Vergangenheit springst, von dort aus die Story linear entwickelst, die Figuren einführst u.s.w., bis sich der Bogen schließt, sich alles in der Jetztzeit wiedertrifft und die Geschichte hier weitergeht?

Alternativ schreibst du es einfach so, wie du denkst, suchst dir dann ein paar gute Testleser umnd schaust, wie gut die durchblicken und wieviel Spaß sie damit haben.

Ist in solchen Fällen echt sehr schwer, da einen Rat zu geben, es gibt da mal wieder kein Patentrezept.

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Hallo Buchling,

ich schließe mich da @Yoro voll und ganz an. Rückblenden vertiefen eine Geschichte, machen Figuren greifbarer und nachvollziehbarer, aber sie reißen den Leser auch immer aus der aktuellen Handlung heraus und sein Interesse muss erst wieder neu geweckt werden. Diese Gefahr potenziert sich mit der Anzahl von Figuren, Handlungssträngen und Rückblenden. Das kann schnell nach hinten losgehen.

Ich würde auch bei den Rückblenden darauf achten, die Erwartungen des Lesers bzgl. Genre zu bedienen. Wenn ein Leser aufgrund deines Klappentextes erwartet, einen Krimi zu lesen und plötzlich nach dem Mord in Kapitel zwei 120 Seiten lang eine Rückblende mit einer romantischen Liebesgeschichte vorgesetzt bekommt, die sich nur langsam entwickelt, besteht ein hohes Risiko, dass er das Buch entnervt in die Ecke feuert. Nichts gegen Liebesgeschichten in Krimis, aber wie bei allem: Die Dosis macht das Gift.

Die Frage ist auch, wie du Rückblenden umsetzt. Es muss ja nicht immer gleich ein ganzes Kapitel sein. Vielleicht kannst Du ja bekömmliche Häppchen vergangener Erlebnisse immer mal wieder im Rahmen deines Haupt-Handlungsstrangs einstreuen, z. B. bei Dialogen oder wenn die Protagonistin abends wieder in Großvaters Tagebuch schmökert. Das ist nicht so störend, als wenn das eine Kapitel mit einer Verfolgungsjagd auf dem Broadway in der Jetztzeit endet und das nächste Kapitel mit “Rom, 2000 Jahre zuvor” beginnt.

Wann setzt man Rückblenden ein? Die klassische Antwort ist “Need to know”. Daneben gibt es auch noch die Variante, den Leser lange seine eigenen (falschen) Schlüsse über eine Figur ziehen zu lassen und diese dann zu einem späten Zeitpunkt zu erschüttern. Ein Beispiel dafür findest du z. B. in “Ein Lied von Eis und Feuer” von George R. R. Martin. Dort wird Jamie Lannister im ganzen Land als “Königsmörder” verachtet und erst sehr spät streut Martin in einer Rückblende ein, warum er so gehandelt hat. Als Leser ertappt man sich dann bei dem Gedanken, dass der vermeintliche “bad boy” doch eigentlich gar kein so übler Kerl ist und man bekommt sogar ein bisschen Mitleid mit ihm. Du kannst Rückblenden aber auch dann einsetzen, wenn es der Leser nicht erwartet und/oder du ihn auf eine falsche Fährte führen willst. Das ist aber tricky.

Rückblenden sind wie Messer. Hervorragend geeignet, um Butter aufs Brot zu streichen, aber man kann sich daran auch verletzen…

Das ist wohl der beste Rat, den man dir zu dieser Frage geben kann.

Viele Grüße

Ralf

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Ich kann nur wiederholen, was ich in dem Prolog-Thread schon gesagt habe, und @Yoro und @RalfG sagen: Rückblenden können wichtig für die Geschichte sein, und wenn sie gut geschrieben sind - einfach machen. Und sehen, wie sie passen.
Vieles ergibt sich auch im weiteren Werden der Geschichte.

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Genau das würde eine **schlechte Rückblende **ausmachen! Eine gute wirkt entweder bewußt retardierend und erhöht dadurch die Spannung (scheidet aber bei @Buchling eher aus, weil sie ja noch am Anfang der Story steht; so etwas macht man eher aufs Ende zu, wenn’s paßt) oder sie dient der Situierung von Ereignissen/Personen, die für den Fortgang der Handlung relevant sind. Und dann muß doch nicht erst wieder ein neuer Spannungsbogen erzeugt werden, sondern natürlich hält die RB die Spannung – steigert sie eventuell sogar --, weil ja ihr Geschehen auf relevante Weise mit der Haupthandlung verkoppelt ist! Es ist Handwerk, das zu erreichen! Wer’s nicht kann, soll Rosen züchten statt Romane zu schreiben, bitteschön!

Gut dargestellt hast du die Möglichkeiten, wie RB attraktiv gemacht werden können. – Ich möchte noch eine Variante hinzufügen, die ich liebe (beim Lesen wie auch Schreiben): Nicht den Leser falschführen, das mache ich jedenfalls nie, weil es fies ist. Aber Ambivalenzen erzeugen, Uneindeutigkeiten, so daß keine gänzliche Klarheit evoziert wird, sondern eine Art “Zwielicht”. Bei meinem Krimi hat das bei mir selbst im Fortgang der Geschichte bewirkt, daß ich mich in einem Handlungs- und Personencharakterisierungsgang sogar selbst – also in der Rolle des Autors – umentschieden habe …

Gruß von Palinurus

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Hallo @Palinurus ,

bei einer Rückblende wechseln plötzlich Personen, Orte, Zeiten. Das ist m. E. immer ein Bruch mit der aktuellen Situation zuvor. Die Herausforderung ist dann eben, die Spannung zu halten oder relativ schnell (wieder) zu erzeugen. Das wird umso schwieriger je mehr Rückblicke für verschiedene Handlungsstränge, Zeitebenen und Figuren benötigt werden. Das Risiko ist dann hoch, eine schlechte Rückblende zu schreiben. Darauf wollte ich mit dem Satz „Diese Gefahr potenziert sich…“ hinaus, aber habe mich wohl etwas ungenau ausgedrückt. Ansonsten bin ich deiner Ansicht, dass Rückblenden bereichernd sind und die Spannung halten können bis hin zu dem „Rosen züchten statt Romane zu schreiben“ :wink:

Zu deinem zweiten Punkt: Das meinte ich damit. Man lügt seine Leser nicht an. Aber wenn sie aus den gegebenen Informationen selbst falsche Schlüsse ziehen, da kann ich ja als Autor nichts dafür… :kissing:

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Am lehrreichsten ist es übrigens, einfach den einen oder anderen Roman, den man für gelungen hält, zu analysieren; d.h. eine Szenenliste zu erstellen: Was passiert in welcher Szene, welche ist eine Rückblende usw.?

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Ein Monat vergangen, und noch immer hadere ich mit meinen Rückblenden - aber anders. Da ich, wie mir aufgefallen ist, quasi zwei Geschichten erzähle, die einen großen Teil ihrer Spannung / Relevanz erst aus der jeweils anderen Teilgeschichte beziehen und ich sie somit nicht einfach in zwei Bücher aufteilen kann, wird das eine Buch viele, viele Rückblenden bekommen, zum Teil auch schlicht Zeitsprünge. Nachdem ich mein Bücherregal durchforstet habe, ist mir keines begegnet, das eine Geschichte quasi 50:50 vor X Jahren und heute erzählt. Kennt Ihr so ein Buch? Idealerweise eines, das so etwas gut umgesetzt hat? Würde mir gerne einmal einige Methoden aus handwerklicher Sicht anschauen. Danke für Eure Empfehlungen!

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Hallo, @Buchling,
das Einzige, was mir dazu einfällt, ist der Film “Grüne Tomaten”. Ich habe vor Jahren auch mal das Buch dazu gelesen, kann mich aber nicht mehr so recht daran erinnern. Ich glaube, ich fand den Film besser. Wenn Du das machen willst mit den vielen Rückblenden, solltest Du darauf achten, dass beide Geschichten gleich interessant und gleich spannend sind. Und Du musst es dem Leser möglichst leicht machen, wieder in die jeweils andere Zeit zurückzufinden. In dem Film ist das ganz gut gelungen, obwohl ich die Vergangenheitsebene noch besser fand als die Gegenwartsebene. Aber allzu viele Bücher fallen mir da nicht ein.

LG

Pamina

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Liebe Buchling,

ich gebe dir eine kleine Liste v.a. recht rezenter Literatur, in der Rückblenden eine bedeutsame Rolle spielen. Einige Beispiele sind aber auch schon etwas älter. Es handelt sich ausnahmslos um arrivierte Schriftsteller, die ihr Handwerk verstehen. In allen Beispielen sind die Übergänge fließend, bis auf eine Ausnahme, da wird recht streng kapitelweise alternierend getrennt (Houellebecq: DMeI). Ich mache den Versuch einer chronologischen Darstellung, bin aber zu faul, jetzt jedes einzelne auf Erschj zu verifizieren):

  1. Ingeborg Bachmann: Drei Wege zum See (Erzählung); tlw. autobiographisch eingefärbt, wobei familiengeschichtliche Aspekte und solche der “Beziehungen” der Erzählerin miteinander verfugt sind. Der äußere Rahmen wird von einem Besuch der (Erzählerin als) Tochter bei ihrem Vater nach langer Zeit gebildet. Sie verweilt einige Tage bei ihm und während diverser Spaziergänge (v.a. zu einem bestimmten See) wird immer wieder neu rückgeblendet, sowohl die Familien- als auch die Liebesbeziehungen der Tochter betreffend.

  2. Iris Murdoch: The sea, the sea (Roman; dt. Das Meer, das Meer): Erzählt wird die Geschichte eines arrivierten Kulturschaffenden (Theater) aus London, der sich in die Einsamkeit am Meer zurückzieht, um dem Londoner Pesthauch für ewig Adieu zu sagen. Durch Zufall trifft er in dem gottverlassenen Küstenort seine ehemalige “große Liebe” aus frühen Tagen. Er versucht zwanghaft, sie wiederzuerobern und wird dabei mit etlichen “alten Bekannten” und auch Verwandten konfrontiert, die ihn von seinem Wahnsinnsplan abzuhalten versuchen (besonders an diesen Personen, die dem Protagonisten mit ihren Besuchen auf die Nerven fallen, entzünden sich viele Rückblenden [wobei besonders jene, die sein Verhältnis zum Cousin betreffen, teils sehr, sehr schön erzählte Rückerinnerungen evozieren]); denn die Frau will offenbar überhaupt nichts von ihm wissen, was er aber nicht akzeptiert (tlw. ganz großes lit. Kino, manchmal hat der Roman allerdings auch Längen). Die große Iris Murdoch – ich schätze sie auch als Philosophin – erhielt dafür den Booker-Preis.

  3. Peter Handke: Wunschloses Unglück (Erzählung) Bei Eintreffen der Nachricht, daß seine Mutter Suizid begangen habe, fällt der Autor in eine Art “mentale Lähmung”, der er sich nach einigen Wochen durch’s Schreiben einer Geschichte dazu entwinden möchte (das Intro der Erzählung bringt das besser auf den Punkt, was ich es hier nur verstümmelnd wiedergeben kann [grandios gemacht – auch im Maß deswsen, was normalerweise eher unters Private fällt]). Resultat ist eine geradezu ungeheuerliche Erzählung. Das stete “Umschalten” vom Status quo des Schreibenden in Erinnerungen an das Leben der Mutter und seines mit ihr ist souverän gelöst. Handke ist ein unvergleichlicher Meister der Sprache … er ist es sogar – was nicht selbstverständlich sein dürfte – in diesem, ihn persönlich schwer treffenden Fall. Grandios. Überwältigend … und sehr ergreifend …

  4. Ian McEwan: Abbitte (Roman) Ich denke, von der Verfilmung her kennt ihn fast jede/r, deshalb hier kein Kommentar. Für mich – neben Der Zementgarten – McEwan bestes Buch. Sensationelle Rückblenden in vollendeter Technik und am Ende ein unvergleichlicher salto mortale!

  5. Bodo Kirchhoff: (a) Parlando und (b)*** Wo das Meer beginnt*** (bei K ließen sich noch etliche andere Romane anführen für Rückblendtechniken). Auch hier stehen zahllose Rezensionen/Besprechungen im Netz, so daß ich nur etwas aus dem Perlentaucher anführe, das für dich vielleicht instruktiv ist: *Die Konstruktion von Bodo Kirchhoffs neuem Roman [WdMb] ist überaus kompliziert, berichtet Rezensent Ulrich Rüdenauer: Lehrer macht Schüler zu seinem Handlanger, zum Objekt der erotischen Begierde, die eigentlich ein “Verfallensein ans Wort” ist; der Lehrer zeichnet auf, der Schüler jedoch wird zum Ich-Erzähler der Geschichte, die wiederum das vorliegende Buch ist, der Lehrer stirbt. Mit anderen Worten: “Im neuen Roman von Bodo Kirchhoff lässt sich die Entstehung eines Buches verfolgen und das Verschwinden des Autors.” Hätte schief gehen können, meint Rüdenauer - doch es gelinge “grandios”, weil Kirchhoff seine Figuren nicht nur - seinem Leitthema gemäß - sexuellen und gewaltsamen Obsessionen unterwerfe, sondern diese auch in “genau protokollierender, also rücksichtsloser, rhythmisch dahinfließender Sprache” erfasse. Das Begehren macht das Ich, und das radikal genaue Erzählen davon die Literatur, schreibt Rüdenauer. Und: Kirchhoff habe soviel zu erzählen, dass er manchmal allzu freigebig Geschichten verstreue. Aber kann man das einem Erzähler wirklich vorwerfen?

Zu* Parlando *hier ein Link (mir hat das Buch sehr gefallen, das sahen aber nicht alle Kritiker so [aber viele dt. LitKrits sind m.E. auch ausgesprochen minderbegabt, um nich zu sagen: hoffnungslos verblödet!]), der n.m.A. der Sache gerecht wird:

https://literaturkritik.de/id/5297

  1. **Mathias Enard: Kompass **(Roman) Dieser, mir sehr, sehr teure Roman – ich fürchte, hier im Forum würde er total durchfallen :smiley: – ist eigentlich eine einzige “Ansammlung von Rückblenden”: Ein Mann (Ich-Erzähler) liegt und schleppt sich siech, ja, todkrank, in Bett/durch die Wohnung (das Leiden zumeist mit Opiumkonsum dämpfend [wobei ambig bleibt, ob mehr das mentale oder nur das körperliche]) und erinnert sich seiner einzigen “großen Liebe” und all jener Tage, da er sie – äußerlich stets im Kontext wiss. Fragestellungen – traf bzw. Briefe und sogar ganze Essays mit ihr tauschte. Meistens sind es dann Reiseberichte in den Orient, mit dem beide in kulturwissenschaftlicher Hinsicht befaßt sind (er spezialisiert auf Musik, was grandiose Einblicke in die gegenseitige Ost-West-Befruchtung auf eher unbekanntem Gebiet zeitigt).
    Für mich eines der besten Bücher der letzten Jahre. Souveräne Erzähl- und (Zeitstrahl-)Umlenktechnik. – Im Grunde genommen ein gigantischer “innerer Monolog” von ungeheuerlicher Sprachgewalt und imaginativer Pracht, die sich freilich in ziselierter Feinarbeit aus dem Block der Sprache schälen und niemals aufgesetzt oder pathetisch wirken.

  2. Michel Houellebecq (a) Die Möglichkeit einer Insel; (b) Serotonin (Romane) Ich sage nicht viel dazu, es gibt im Netz zahllose Besprechungen. Mir hat (a) nicht besonders gefallen, ich führe den Roman an, weil er die Technik der Rückblende konsequent über Kapitelalternierung realisiert, wobei ich offenlassen möchte, ob es sich nicht sogar um die Verschränkung von Rück- und "Vor"blendungen handelt, bei der die Jetztzeit quasi ausfällt. Bei (b) handelt es sich um die Beschreibung eines akuten menschlichen Totalwracks (so radikal wie vielleicht noch nie vorher in H’s Romanen), wobei die Rückblenden so scharfe Kontraste setzen tlw., daß es einen “innerlich durchschauert”. Technisch ist das Ganze glänzend gelöst (der Schock bei mir war der inhaltlichen Dimension geschuldet). – Ich halte den Roman für sehr gelungen. Die teils äußerst mediokre Literaturkritikszene in D war tief gespalten: Die “politisch Korrekten” haben auf H’s (bisher letzten) Roman eingedroschen, was das Zeug hält, wobei sie offenbar überhaupt nichts verstanden haben (aber was Wunder bei deren Mediokrität?!); von anderen ist er gelobt worden. Ich stehe auf deren Seite … – Zu erwähnen wäre hier auch noch: (c)* Karte und Gebiet*, wofür er den *Prix Goncourt *[sic] bekam. Ebenfalls klasse Rückblendtechnik.

  3. Antonio Muñoz Molina: Schwindende Schatten (Roman) Da ich hier erst kürzlich etwas zu diesem außergewöhnlichen, sehr guten Roman geschrieben habe, möchte ich mich jetzt kurz fassen: In diversen Weisen wird vom aktuellen Geschehen aus – dem Verfassen eines Stücks Literatur über den Martin-Luther-King-Mörder James Earl Ray – rückgeblendet, sowohl auf des Mörders Leben als auch jenes des Autors, wobei die Stadt Lissabon wie eine Art Gelenk wirkt, weil M.M. auch einen seiner ersten Romane in (und über) Lisboa schrieb, allerdings von einem ganz anderen Lebenshintergrund herkommend als jetzt, etwa dreißig Jahre später. Will sagen: Auf eine sehr subtile Weise ist dieser Roman auch selbstreflexiv: Er spiegelt sozusagen das Sich-Schreiben des Textes wider und benutzt dazu u.a. auch die Rückblenden. Zudem kann sich der Text eines ganz eigentümlichen “Swings” rühmen, denn der Autor “plastifiziert” jeweilige Zustände mit Jazz-Reflexionen, deren magisches Timbre sich auf das Konvolut der Buchstaben zu übertragen scheint, als repräsentierre es (auch) eine Notenschrift. Außergewöhnlich. Magisch. Wunderschöne Lektüre …

So, jetzt hoffe ich, etwas für deine schöngeistigen Recherchen vorgeschlagen zu haben, das deinen Beifall finden könnte, liebe @Buchling .

Viele Grüße von Palinurus

PS: Eine besonders … ähm … “perfide” – nein: natürlich geradezu geniale – "Rückblend"technik wendet Cees Nooteboom in Die folgende Geschichte an. Ich verrate nicht, was er dabei treibt. Aber es ist phantastisch, wenn auch nicht in jedem Fall adaptierbar (geht, glaub’ ich, wirklich nur in einer volumenmäßig recht übersichtlichen Erzählung oder Novelle, weshalb es im PS zu stehen kommt).

PPS: Im Übrigen wird kein mental durchschnittlich begabter Rezipient jemals von irgendeinem rück- oder vorwärtsblendenden Sprung der hier versammelten Autoren “verwirrt” oder anderweitig “aus dem Lesegleis gehoben”. Ich habe keine Ahnung, woher derlei Schwarzmalerei rühren könnte. Die Weltliterartur atmet seit der* Ilias* und Gilgamesch aus der Faszination von perspektivischen Wechseln in diversen Modi. Mach dir also keine Gedanken. Alles wird gut …

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zwar nicht so anspruchsvoll wie die Beispiele von Palinurus’ Liste, aber soweit ich mich erinnere, spielt ‘Es’ von Stephen King das ganze Buch über auf zwei verschiedenen Zeitebenen. Allerdings mit denselben Personen, halt einmal als Kinder und dann als Erwachsene, aber für sich alleine würde keine der beiden Ebenen richtig funktionieren.

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… ist das nicht typisch für Ian McEwan? Alle seine Werke die ich kenne haben eines gemeinsam: Die Rückblenden… Ob ich das unbedingt immer gut finde, ist eine andere Sache. Für mich löst am allerbesten John Katzenbach diese Aufgabe. Aber auch das ist sicherlich Geschmackssache.

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Ich würde es so zu beschreiben versuchen, daß die Zeitebene 2, als die Kinder “von damals” (den Fünfzigern) nach dreißig Jahren wieder auf den Plan gerufen werden, der Geschehnisse auf Zeitebene 1 bedarf, um nachvollziehbar zu sein (wie würde sich sonst bspw. der Suizid eines der inzwischen Erwachsenen erklären lassen?). Ob es umgekehrt auch so ist, also die Ebene 1 der zweiten bedarf, glaube ich eigentlich nicht. Die Geschichte hätte ja, mit einem hinzugestrickten Ende, auch schon nach der vermeintlichen ersten Tötung von ES enden können (entsprechende Auflösungen wären nicht schwer zu finden).
Der “Trick” Stephen Kings bei Es ist m.A.n. ein anderer als bei “klassischen” Rückblenden: Er gräbt seinen Lesern zuerst das Geschehen in den Fünfzigern tief ins Gedächtnis (samt einigen noch früheren Vorfällen) und bedient sich dann dieser vorher abgesetzten “Ladung”, um sie auf der zweiten Ebene sinnverstärkend einzusetzen. Wenn ich King da richtig verstehe, ist die Intention (neben anderem), das Iterative am “Horror des Es” chronologisch korrekt herauszustellen: Signifikanterweise wird ja an ihm gerade auch eine “echte Rückerinnerung” eklatant, wenn das Es nämlich seine eigene Geschichte ausbreitet (kosmische Dimension). Denkt man diese beiden diversen Techniken zusammen, also korrekte Chrologie da und (vorübergehend) zeitauflösende Rückblende dort, wird m.E. klar, worauf diese Differenzierung hinausläuft: Dert Autor macht damit die “schon ewig” anhaltende Iteration des Unheils klar, gewissermaßen geht es ja so zu, seit es Menschen auf der Erde gibt; und King läßt uns als Leser praktisch vom Endpunkt des vorher perrenierenden Unheils auf die lange Kette vorher zurückschauen, indem er deren letzte beiden Glieder in ihrer (zeit-)logischen Abgfolge plastifiziert.

Die “klassische” Rückblende geht aus meiner Sicht auf die Dinge anders vor: Sie setzt einen cut! Sie “schneidet” das Band der Diachronie (vorübergehend) durch und synchronisiert (für ein bestimmtes Intervall) zwei normalerweise differente Zeitebenen: Die der Haupterzählzeit – die ja eine jegliche Rückerinnerung immer mitstrukturiert! – und die einer Vergangenheit (oder auch Zukunft). Wie schon angedeutet sehe ich diesen Schnitt bei Kings Es weniger (außer in der Geschichte des Es selbst); was andersherum hieße: Die Erzählzeit bleibt in der Hauptsache diachronisch und eindimensional. Aber in der Mens, in der Erinnerung des Lesers "verdoppelt sich sich praktisch genauso wie bei einer Rückblende. Nur mit dem Unterschied, daß der je akute Text das nicht evoziert – wie in der klassischen Methode --, sondern die Erinnerung des Rezipienten. – Für mich besteht kein Zweifel, daß dies v.a. durch strukturale Momente abgesichert wird: Also über Wiederholung in einer kreisförmigen Struktur nach Maßgabe des Prinzips der Wiederkehr des ewig Gleichen
Stephen King macht aus seinen Protagonisten Helden (im Mythos sind das die sog. Trickster), indem es ihnen gelingt, die ohne Anfang und Ende stehende Kreisform (The serpent eats its tail) aufzuschneiden und zur Linie auszufalten. Damit bekommt das Verhängnis einen Anfang und ein Ende …

Gruß von Palinurus

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Da traue ich mich ja fast nicht, das zu sagen: in meinem letzten Krimi (Tod in der Großen Kurve) springe ich zwischen Mitte der Achtziger und heute, bzw. vor etwa 2 Jahren. Ob das gelungen ist? Mögen andere beurteilen.

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… umso besser, daß du es gleichwohl getan hast! Bekenntnisse zur Rückblende als veritablem Erzähl- und Stilmittel kriege ich unter den hier im Forum Schreibenden eher selten mit, was mich doch ziemlich wundert. Daß du @Buchling jetzt mit dem deinigen beispringst, ist ein schöner Zug!

Liebe Grüße von Palinurus

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Liebe Alex,

auf GoogleBooks, mit den dort applizierten kurzen Unterbrechungen freilich, habe ich gestern so etwa siebzig, achzig Seiten von Tod in der Kurve gelesen (hat mich gewundert, daß mir so viele gewährt wurden und ab und an stets nur zwei ausgeblendet wurden), woraufhin ich sagen möchte: Bei dir funktionieren die Rückblenden tadellos (aber alles andere hätte mich auch gewundert). – Was mir ein bißchen … ähm … „formalistisch“ vorkam, war die Deklaration der jeweiligen Zeitenwechsel in den Kapitelüberschriften. Ich sehe das als unnötig an. Sozusagen: Dem werten Leser darf doch auch einmal ein bißchen Hirnschmalz zugetraut werden … oder? :roll_eyes:

Mir ist es deshalb wichtig, darauf extra hinzuweisen, weil es natürlich eine Art von vorwegnehmender „Lektüre-Präparation“ ist, die ein (womöglich leserseitig erwünschtes) Moment der Überraschung samt damit gesetzter Aha-Erlebnisse systematisch verhindert. Ich hatte jedenfalls während meiner Lektüre nicht den Eindruck, daß die Extra-Ausweisung des Zeitsprunges in den Überschriften vonnöten sei, was ich daran merkte, daß auch mal Kapitelübergänge ausgeblendet waren – gleichwohl fand ich mich zurecht. – Was doch heißen mag: So doof, wie du vielleicht denkst, ist der Palinurus (als Leser deines Krimis) gar nicht: Er vermag es (spätestens nach ein paar Zeilen) sogar … ähm … eigenständig dem Text zu entnehmen, daß eine Rückblende statthat … :cool:

Eine Rückfrage noch (wegen der gleichwohl fragmentierten Lektüre): Ist die Erzähl-Position die einer „allmächtigen Erzählerin“? Mir fiel an einer Stelle auf – ad hoc etwas störend für meinen persönlichen Geschmack --, daß dem Leser bei vielleicht auch nur randständigen (?) Personen Zutritt „ins Innere“ gewährt wird, er also vulgo mit deren Gedanken vertraut gemacht wird (die Szene war: Die Protagonistin trifft auf einen ehemaligen Klassenkameraden [Schreiner], dessen gedankliche Wiedererkennung souffliert wurde). Was ich mich bei derlei Konstruktionen frage (sofern ich das jetzt richtig sehe und nicht einem Irrtum über die Rolle der Person im Roman erliege): Wozu frommt es, dem Leser mit solchen Methoden (quasi des grenzenlosen Allrundblickes) die Ausbildung je eigener Imaginationen zu verweigern? Wenn ich mich der third-person-view bediene, achte ich sehr darauf, den „Einblick ins Innere“ stets ziemlich streng zu limitieren: I.d.R. kommt der Leser nur bei den absolut tragenden Figuren in den Genuß dieses Privilegs (und von denen sind* nie* alle auf diese Weise durchleuchtet); bei Nebenfiguren lasse ich das praktisch gar nicht zu. Sondern wenn es da etwas zu sondieren oder auch projizieren gibt, wird das immer über die Perspektive eines anderen Handlungsträgers (mit reflektierbarer Innenwelt) realisiert.
In meinem Krimi – dessen Prolog ich hier zur Diskussion stellte – gibt es auf der manifesten Ebene (die Manuskriptdimension außen vorgelassen) etwa zwölf bis fünfzehn wiederkehrend handlungsrelevante Personen, aber nur vieren von ihnen kann der Leser ins Innere schauen (mit der Ausnahme des Barkeepers am Anfang, der dann keine Rolle mehr spielt; was aber wohl selbsterklärend ist, sofern man die vom sonstigen Konzept abweichende Anlage des Prologes berücksichtigt). M.A.n. wird mit der Öffnung der Bewußtseine aller handelnden Figuren zuviel Druck aus dem Kessel gelassen. Aber viele Romane leben ja gerade von diesem Druck! Deshalb halte ich so ein Vorgehen für nicht sehr günstig. – Aber wie gesagt: Diese Überlegung steht unter dem Vorbehalt, daß ich überhaupt richtig liege mit meiner Einschätzung der hier inkriminierten Person; es mag aufgrund meiner fragmentierten Lektüre sein, daß ich da einem Irrtum erliege (obwohl ich selbst unter diesem Vorbehalt sagen möchte, daß speziell diese kurze „mentale Einlage“ aus meiner Sicht sogar grundsätzlich überflüssig sein könnte) …

Und nun noch das Salz in der menschlichen Suppe: Ich fand es ja wahnsinnig interessant, daß dein Ermittler den Namen Maurer trägt, denn just denselben trägt mein ermittelnder Hauptkommissar auch (Vorname Kurt). Manchmal ist es echt frappant, was „in der Welt so vor sich geht“ … – M.E. sind Namen nie lapidar, selbst dann nicht, wenn sich die Autoren (scheinbar) nicht viel Schwerblütiges beim Taufakt gedacht haben!

Schöne Morgengrüße von Palinurus

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Tigana von Guy Gavriel Kay, da ist der Inciting Incident auch 20 Jahre vor der Haupthandlung.

Wenn Du es schaffst, den Zeitsprung für den Leser eindeutig zu signalisieren, gibt es auch
keine Verwirrung.

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