Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn

Hallo zusammen,

gestern stieß ich in meinem Leib- und Magenbuchladen zufällig auf das Buch mit den gesammelten Gesprächen zwischen Osvaldo Ferrari und Jorge Luis Borges, das ich hier im Forum gerne zu Lektüre empfehlen möchte, weil es u.a. auch einen Blick in die “Werkstatt des Schriftstellers” impliziert, wie er nach meinem Dafürhalten gleichzeitig lehrreicher und schöner kaum sein könnte.

Bereits das erste Gespräch – Über Vorworte – ist einerseits so typisch für Borges, andererseits vielleicht auch lehrreich, was den Umgang mit Geschreibsel anderer angeht, daß ich gleichmal etwas daraus zitieren möchte (wobei angemerkt sei, daß dabei der Ausdruck ‘Prolog’ als einführendes Vorwort eines je anderen Autoren*** aufzufassen ist und nicht als erstes Kapitel eines Romans o.ä.):

“Im Prolog muss es einen kleinen Überschuss an Lob geben; der Leser zieht ihn wieder ab. Aber gleichzeitig muss der Prolog großmütig sein, und nach vielen Jahren, nach zu vielen Jahren bin ich zu dem Schluss gelangt, dass man nur über das schreiben sollte, was einem gefällt.
…]
Ich glaube, dass negative Kritik keinen Sinn hat. …] Novalis war der Meinung, Goethe sei ein oberflächlicher Autor, bloß korrekt, bloß elegant; er verglich Goethes Werke mit englischen Möbeln … Heute sind Novalis und Goethe beide Klassiker. Das heißt, was gegen jemanden geschrieben wird, setzt ihn nicht herab, und ich weiß nicht, ob das, was man für jemanden schreibt, ihn erhöht.
Aber ich schreibe jedenfalls seit langer Zeit nur über das, was mir gefällt, auch weil ich meine, wenn mir etwas nicht gefällt, liegt das eher an einer Unfähigkeit meinerseits oder einer Plumpheit, und davon brauche ich andere nicht zu überzeugen. …]
Mir scheint, gegen etwas zu schreiben ist zu nichts nütze.”

***Was für eine schöne Institution übrigens, die es bezüglich dessen früher gegeben hat – und wie schade, daß es sie heute eigentlich kaum noch gibt, also bezogen auf neue, bisher unbekannte Autoren.

Noch etwas m.E. sehr Bemerkenswertes aus den ersten Seiten (ich habe noch nicht sehr viel im Buch gelesen): Dabei geht es um die Bedeutung der Zeit sowie darum, zu konservieren, was Menschen an Bedeutuingsvollem sagen. Im Abschnitt: Die Kunst muss sich von der Zeit befreien ist zu lesen:

"Ich glaube, dass die Menschen dauernd denkwürdige Sätze sagen und es nicht bemerken [Borges hat vorher ein Bsp. dafür angeführt: Seine Mutter hatte sich während seiner Kindheit – von ihm damals belauscht – über den Tod einer nahen Verwandten mit der Köchin ausgetauscht, die daraufhin etwas absonderte, das er Jahrzehnte später wegen seiner Prägnanz in eine Erzählung einfließen ließ]. Und vielleicht ist es die Aufgabe des Künstlers, diese Sätze zu sammeln und aufzuheben. Jedenfalls sagte Bernard Shaw, fast alle genialen Sätze von ihm habe er selbst zufällig irgendwo gehört. Das allerdings mag auch wiederum ein genialer Satz sein oder aber ein Zug von Bescheidenheit bei Shaw.

In diesem Fall wäre der Schriftsteller ein großer Koordinator des Genies der anderen? [Frage von Osvaldo Ferrari (Bold gesetzt im Orig.)]

Ja, und, sagen wir, ein Chronist der anderen, ein Chronist und Schreiber vieler Meister, und vielleicht ist es wirklich am wichtigsten, der Verzeichner und nicht Erzeuger des Satzes zu sein.

Ein individuelles Gedächtnis des Kollektiven.

Ja, genau, darauf läuft es hinaus."

https://kampaverlag.ch/jorge-luis-borges-lesen-ist-denken-mit-fremdem-gehirn/

Frühere Ausgaben sind – mit Blick auf den Preis der aktuellen Ausgabe bei Kampa – auch antiquarisch für weit weniger Geld zu haben.

Viele Grüße von Palinurus

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Interessant. Da werde ich vielleicht mal reinschauen…

»Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs«. Das verblüfft mich, denn Haefs kannte ich bislang nur als Autor u.a. des sympathischen „Universaldiletanten“.
:thumbsup:

Gruß

Peter

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Gisbert Haefs ist ausgebildeter Anglizist und Hispanist. Bei der Gesamtübersetzung (!) von Borges’ Werken ins Deutsche hat er sich zusammen mit Fritz Arnold durchaus einige Meriten verdient. Die neu übersetzte Gesamtausgabe bei Fischer/Hanser vertritt er außerdem auch als Herausgeber. Zudem hat H. auch zahlreiche Übersetzungen aus dem Englischen geleistet.
Da er daneben auch noch etliche eigene Lit. Werke verfaßte, kann man schon fragen, was für ein Energiebündel er eigentlich ist. Aber wie auch immer: Seien wir froh, solche Leute zu haben!


Und noch anbei bemerkt zu Borges: Äußerst instruktiv dazu – also was die Analyse angeht für diesen extraordinären Schriftsteller und sein Schreiben --, empfehlen sich für Selbstschreibende m.E. nicht zuletzt die Beiträge des hervorragenden Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer.
Ich führe mal an:

H. Schlaffer: Borges
H. Schlaffer: Poesie und Wissen (auch unabhängig von Borges sehr, sehr gut)

https://www.lovelybooks.de/autor/Heinz-Schlaffer/Borges-142704090-w/

https://www.suhrkamp.de/buecher/poesie_und_wissen-heinz_schlaffer_29379.html


Aus Anlaß der Gesamtausgabe erschien seinerzeit auch: Haefs/Arnold (Hrsg.): Borges lesen

https://www.booklooker.de/Bücher/Gisbert-Arnold-Haefs+Borges-lesen/id/A02mtMoH01ZZV

(darin finden sich tolle Essays zu B., u.a. von Octavio Paz und Marguerite Yourcenar)

Dann hab ich auf die Schnelle noch das hier zu bieten: Sonderausgabe von Lichtwolf. Thema Borges. Steht dankenswerterweise online (frei zugänglich):

https://www.lichtwolf.de/gimmicks/lwsh09_Borges.pdf

Gruß von Palinurus

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„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“
Buch ist bestellt!
Danke für den Tipp:thumbsup:

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Ja, das sind „echte“ Vorworte, wenn ein anderer als der eigentliche Autor sie verfasst hat. Gut, sich das in Erinnerung zu rufen.
Das Buch kommt auf die Wunschliste, vielen Dank für die Empfehlung.

… wolltest Du nicht darauf achten, auf den Genitiv von Autor?:kissing::roll_eyes:

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“Senora, um zu sterben, braucht man nur lebendig zu sein.”

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Liebe Alex,

du rührst in brennenden Wunden! Dieser bullshit ist so tief eingeschnitten bei mir … – Bitte dringend um weitere Beobachtung! Und zur Not muß ich halt eine Analyse absolvieren, um mit dem Traume fertigzuwerden!

Schöne Morgengrüße von Palinurus

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Danke für den Tip, Palinurus! Ich habe mir das Buch vorgemerkt…

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Immer wenn du **Autoren **schreibst, musst du nur an den Satz denken: *Man kann den Autoren nicht küssen.
*
Dann kommt der Aha-Effekt. Akkusativ den Autor, also muss der Genitiv des Autors heißen. Kleine, komplizierte Eselsbrücke, aber das sind Eselsbrücken ja meistens.

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Lieber @Palinurus ,

Du könntest dir natürlich (für die Verwendung in Papyrus) ein Textmakro basteln.

  1. Hauptmenü / Einstellungen / Textmakros…
  2. “Autoren” im Feld Kürzel eintragen
  3. “???” im Feld Text eintragen
  4. “selbst-explodierend” auswählen
  5. Übernehmen und Schließen

Wenn du danach “Autoren” eintastest, wird das nach Eingabe des letzten Buchstaben unverzüglich in “???” gewandelt.
Solltest du doch einmal “Autoren” eingeben wollen, gibst du “Autore n” ein und löschst mit [Pfeil nach links] und [Backspace] das überzählige Leerzeichen.

Zugegeben, etwas aufwendig. Aber funktioniert.

mfg os|<ar

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Lieber Oskar,

diese Idee hat etwas für sich! So würde mich praktisch ein Algorithmus konditionieren, um den systematischen Fehler auszumerzen. Ich werde darüber nachdenken …

Mir gefällt freilich auch der Vorschlag von @Unbefleckte , weil der mich zwingt, „selbst die Gedanken zusammenzunehmen“, freilich inklusive der Gefahr, des Eselsbrückleins doch nicht immer eingedenk zu sein.

‚Eselsbrücke‘ ist hier der signifikante Term :roll_eyes:: Es könnte mir am Ende gehen wie Buridans Esel, sofern ich mich nicht entscheiden würde. Deshalb ist es womöglich am besten, wenn ich beide Methoden anwende: In Papyrus hilft die deinige gewiß. Woanders schreibend – bzw. auch sprechend – wären selbstkonditionierende Maßnahmen die richtige Antwort auf den Fehler. Folglich sollte ich mich beider Heuhaufen bedienen, statt darüber zu sinnieren, welcher für mich der günstigere ist.

Viele Grüße von Palinurus

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Na denn: “Guten Appetit!”

mfg os|<ar

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Oder - Du verwendest gelegentlich, wenn es passt, einen anderen Begriff, der für Dich eingängig dekliniert wird::cool::wink:

  • Der Literat, des Literaten (hier eine wunderbare Genitivendung auf -en)
  • Der Poet, des Poeten (auch hier auf -en)
  • Der Verfasser, des Verfassers (geläufiges, deutsches Wort mit Standard-Genitiv-s)
  • Der Schriftsteller, des Schriftstellers (Standard)
  • oder eben doch der Autor, des Autors (mit Eselsbrücke und/oder Makro und/oder in anderen Programmen Autokorrektur)

(nur ein paar aus dem Thesaurus):kissing:

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