Menschen im Fels

Als dein Pate abends von den Feldern kam, die im Osten liegen, und wo er Tag für Tag versuchte, dem Geröll und der Einöde Herr zu werden, gab es einen Streit mit deiner Patin. Und nach dem letzten und lautesten Wort von ihm stürmte sie wutentbrannt aus dem Haus, hastete mit wüstem Geschrei und wehendem Rock den Berg hinauf, bis sie in den hohen Wolken mottenhaft verging. Zuerst verschwand sie, und kurz darauf auch ihr Gezänk. Dein Pate kam aus dem Haus, holte dich an der Hand hinein und verpasste dir Schläge für irgendein Vergehen. Später kamst du und sagtest, dass du nicht geweint hättest, aber das hast du, denn deine Augen sind noch rot. Meine Mutter ruft mich zurück ins Haus, es gibt Abendbrot. Wir essen Ziegenkäse und frisches Brot, wir Kinder trinken Wasser und die Eltern trinken schweren, roten Wein. Sie unterhalten sich über deine verrückte Patin und ihren grobschlächtigen Mann, und als ich über die Schulter meines Vaters blicke, sehe ich dein dunkles Gesicht platt an der Schreibe. Du weichst zurück und formst mit dem Mund ein O. Ich schlinge das Essen herunter und murmle etwas als Entschuldigung. Meine Eltern hören mich nicht und mein kleiner Bruder schnappt sich den Rest vom Ziegenkäse. „Was ist?“, frage ich dich, als ich in dich rein renne. Inzwischen ist es dunkel und die Sterne funkeln am Himmel und der halbe Mond ist beinahe weiß. Nur aus ein paar Häusern unseres Dorfes dringt weiches Licht nach draußen. Es sind nicht mehr viele hier. Jedes Jahr werden es weniger, und mein Vater sagt, eines Tages wird Ruolfo ein Geisterdorf sein, mit nichts als Wind und Schatten. Du ziehst mich am Ohr zu dir ran, legst eine Hand vor den Mund und flüsterst: „Die Patin ist gerade zurück gekommen und jetzt ist sie ganz verrückt geworden.” „Warum?" „Sie sagt, oben am Llano wachsen lebende Menschen aus dem Gestein." Ich sehe dich ratlos an und verschränke die Arme unter dem Poncho. Die klamme Feuchtigkeit des Tages friert nachts zu einem hauchdünnen Film, der alles bedeckt. Jede Bewegung im Freien ist von einem dünnen Knistern begleitet. Du schaust mich erwartungsvoll an, und als ich zurückschaue, rutscht dein Blick weg, du legst den Kopf in den Nacken und äugst zum Berg. Die Wolken haben sich verzogen, seine Felsen und Grate sind scharf im Mondlicht zu erkennen; die Nordostflanke ist mit Eis und Schnee bedeckt. Und der Wind hat gedreht, so wie immer in den späten Novembernächten. Er kommt jetzt vom Berg herunter gewieselt und er bringt ein dünnes, vielstimmiges Klagen mit sich. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf und ich sage: „Vielleicht hat sie wirklich etwas gesehen." Du legst den Kopf schief: „Ja, kann sein." „Also, was machen wir?" Du sagst: „Also, nur wir zwei? Wir sind die Schnellsten. Wir rennen den Steig hoch, den auch die Patin genommen hat, wir schaffen das im Nu. Wir sind wieder unten, bevor jemand merkt, dass wir überhaupt weg waren." Ich nicke. Wir sind wirklich die Schnellsten. Die Kinder haben noch nicht die Kraft und Ausdauer, die Jugendlichen bemühen sich schon um die würdevolle Langsamkeit der peruanischen Bergbauern. Nein, wenn es ums Laufen geht, kann es nur um uns gehen. Ich sage nachdenklich, weil ich noch nicht ganz sicher bin: „Sollen wir gleich den Bürgermeister und die anderen Erwachsenen dazuholen? Da oben liegen vielleicht Verletzte herum und es hat für deine Patin nur so ausgesehen, als ob …" Während wir beratschlagen, wie wir vorgehen sollen, sind wir bereits losgelaufen, eng beieinander, verschwörerisch und schnell. Du keuchst: „Quatsch. Wir gehen rauf und schauen, ob´s gefährlich ist und so. Danach informieren wir alle anderen und werden gelobt, wetten?" Der Gedanke, ein Held zu sein, lässt mich schneller laufen, immer an deiner Seite.

Jetzt ist der Mond so weiß und groß, dass wir nächtlichen Schatten neben uns auf den Boden werfen, wir werfen Schatten und stürmen den Berg hinauf. Um uns ist es vollkommen still. Wir hören nur unser Atmen. Zwischendurch bleiben wir kurz stehen und tun so, als ob wir Luft holen müssten, aber wir atmen hart aus und ziehen den Bauch ein um das Seitenstechen wegzukriegen. Dann laufen wir weiter und als wir die untere Ebene des Llano erreichen, hören wir die Schreie deutlicher. Es sind viele Stimmen, es sind die Stimmen von Frauen und Männer und Kinder. Ihr Klagen ist so elend, dass wir stehen bleiben und uns ansehen, wir prüfen uns, ob wir das wirklich sehen wollen. Wir gehen weiter, jetzt mit dem schweren sicheren Tritt von Jungen, die am Berg aufgewachsen sind, und nicht mehr leichtfüßig laufend wie Bergziegen. Du fragst: „Wollen wir das wirklich sehen?" Ich antworte: „Weiß nicht." Aber es ist zu spät. Wir erreichen die erste flache Anhöhe des weiten Llano, ein karges Feld aus gigantischen Steintafeln und Eis. Und im Mondlicht sehen wir eine unglaubliche Menge von Menschen, die halb in den Stein eingesunken sind. Manche stecken verkehrt herum im Gestein, von anderen sieht man nur noch die Arme und die Köpfe, manche sind mit dem Gesicht in den Fels gesunken, andere starren flehentlich in das graue Licht der Nacht und bewegen die Lippen. Viele aber stecken bis zu den Hüften im Fels, und einer, an dem wir vorbeikommen, als wir langsam weitergehen, liegt flach eingesunken im Stein. Seine Augen sind offen und suchen den Himmel nach einer Erklärung ab. Er formt den Mund um ein Wort zu sagen, aber es kommt nur ein nasses Zischen, das so klingt wie der Fluss im Tal, wenn er im März über die Ufer tritt. Ich flüstere: „Oh Jesus, wir müssen ihnen helfen." Du zischst entsetzt: „Wie?" Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich. Ein kleines Mädchen mit weißblonden Haaren greift nach meinem Bein, als ich an ihr vorbeigehe. Sie steckt bis zu den Knien im Gestein … Sie murmelt etwas, dass so klingt wie „Papa". Dann rutscht ihre Hand ab und sie starrt fassungslos in die Sternennacht. Du sagst: „Es sind Hunderte. Wo kommen die bloß alle her? Sind die aus der Hölle?" Zuerst zögern wir, aber dann gehen wir langsam, auf unsere Schritte achtend, zwischen diesen Menschen hindurch wie durch einen verrückten, bösen Wald. Immer wieder hören wir ein Weinen und ein Flehen, aber wir verstehen die Sprache nicht, wir sehen uns an und zucken mit den Schultern. Manche haben Uhren an den Handgelenken, die schauen komisch aus, die haben keine Zeiger, sondern nur eine glatte Fläche, unter der Zahlen sind. Sie haben alle merkwürdige Kleidungsstücke an aus einem hellen, glänzenden Material, das in einer erst vor kurzem vergangenen Hitze geschmolzen war und auf ihrer Haut klebte … oder mit der Haut verschmolzen war. Wir sehen einen Mann, der fast frei ist, wirklich fast. Im Mondlicht steht er da, bis zu den Knöcheln im Fels eingesunken. Seine Kleidung sieht verbrannt und zerrissen aus, ja, über allem ist der Geruch von Brand und kalter, nasser Asche. Inzwischen hat der Wind aufgefrischt und ich sage zu dir: „Die erfrieren. Wir müssen was tun, die sterben da ja alle!"

Du siehst mich an und zuckst die Schultern und hast einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich glaube, es ist dir egal. Du gehst zu einem hin, der schon beinahe tot ist, gehst um ihn herum, dann bückst du dich etwas und nimmst ihm die metallisch schimmernde Uhr ab, die er am linken Handgelenk hat. Eigentlich will ich schimpfen, aber ich bin zwölf Jahre alte Neugierde, wie mein Papa immer sagt: „Was ist denn das?" Du zuckst wieder mit den Schultern, aber dann sagst du: „Egal. Unten im Tal bringt mir das sicher ein Schaf." Wir gehen zurück zur erhöhten Ebene. Der Wind stößt massive Wolken vor sich her, die an den Rändern silbern schimmern und ausfransen. Ich raune: „Wir können versuchen, sie rauszuziehen." Du schaust mich zweifelnd an, fast so, als wolltest du „Wieso?" sagen. Aber du flüsterst nahe an meinem Ohr: „Wenn das so einfach wäre, dann hätten die sich schon selbst befreit, oder was meinst du?"

„Ich wills bei dem kleinen Mädchen da versuchen. Sie weint so schrecklich." Gehe zu dem Kind mit den blonden Haaren und sage: „Hab keine Angst mehr, ich hol dich da jetzt raus." Sie schaut mich mit großen, nassen Augen an und ich sehe, dass ihr sogar schon zu kalt ist, um zu zittern. Der Rotz unter ihrer Nase ist gefroren, ihre Lippen sind blau und sie bekommt nur schwer Luft. Das geht vielen Leuten so, wenn sie die Luft hier in den Bergen nicht gewohnt sind. Manche Wanderer aus fremden Ländern sagen, dass die Landschaft hier in den peruanischen Anden, weit über dreitausend Meter, besonders streng und unnahbar ist und dass sie den Mensch zurückstößt, zurückweist. Ich verstehe diese Leute nicht. Das Leben ist hart, ja. Aber wir leben in größter Freiheit. Das sage ich zu dem Mädchen: „Gleich bist du frei. Ich ziehe dich heraus, halt dich an meinen Armen fest." Ich packe sie an den Unterarmen stelle mich breitbeinig hin und fange zu ziehen an. Sie wimmert. Ich versuche es noch mal, verbessere meinen Stand, ziehe. Nichts. Jetzt weint sie so richtig laut. Weiter weg schreit ein Mann. Du zupfst mich am Ärmel, und lasse das Mädchen los und du sagst, klug, wie du bist: „Wir laufen hinunter schnell wie Gazellen. Wir holen Hilfe. Wir beide können da gar nichts machen." Ich nicke und tänzle auf den Zehenballen wie ein rennbereites Pferd. Mir kommt vor, wir laufen besonders schnell. Nicht nur, weil uns inzwischen selbst kalt geworden ist, sondern, weil dieser Wald aus Menschen, die im Stein halbversunken weinen und schreien, wirklich unheimlich ist. Mehr noch, es ist wie eine dieser Geschichten, unheimlich und furchtbar tragisch.

Vier Stunden später sitzen wir mit gekrümmten Rücken vor dem Haus deiner Patin, eingewickelt in dicke Decken und Ponchos. Wir hatten unsere Hauben auf. Unsere Gesichter waren geschwollen vom Weinen. Wir stanken nach Schweiß, Ruß und Benzin. Wir atmeten ruhig. Alles war jetzt gut. Alles war still. Am Llano oben war alles vollkommen still. Wir brauchten uns nicht mehr darum zu kümmern. Aber ich sah in deinen Augen, an der Art, wie du den Mund verzogst, teils wegen der Schmerzen, teils, weil du nachdachtest, dass wir niemals aufhören werden, uns zu fragen, woher diese Menschen gekommen waren. Und warum sie halb im Boden steckten, manche tiefer drin, andere fast heraußen, und manche, die flach da lagen, in den Himmel starrten und vor Schmerzen weinten.

Als wir ins Dorf gelaufen kamen, waren alle am großen Platz beim Brunnen versammelt. Sie rauchten und redeten wild. Da wurde uns schon ganz schlecht vor Angst. Mein Vater und dein Pate fingen uns im Lauf ab und schüttelten uns durch, warum wir da rauf gelaufen seien, das hätte ja gefährlich sein können? Dann herrschte uns dein Pate an: „Wo ward ihr? Was ist dort oben? Hat sie etwa recht?" Er zeigte auf die Patin, und in dieser Geste war viel Widerwillen und Wut. Ich hörte zu, wie du erzähltest, was dort oben war: Menschen von irgendwoher, manche noch am Leben, andere schon fast tot. Es sähe so aus, als ob sie in den Fels eingesunken wären, so, als ob er kurz zu Wasser oder so geworden wäre, um dann wieder fest zu werden. Blödsinn, schrie dein Pate, Felsen, die flüssig werden, lüg mich nicht an, rief er. Der Wind brachte erneut eine Welle von Klagerufen und elenden Weinen. Die Frauen hielten sich die Ohren zu, ein paar andere brachten ihre erschreckten Kinder in die Häuser. Ich sagte: „Wir müssen sie retten." „Ja und wie?“, fragte mein Vater, und ich merkte, dass ihm keine der Aussichten im Moment wirklich gut gefiel. Der Bürgermeister unseres kleinen Dorfes sagte mit ruhiger Stimme: „So wie´s ist, kann´s aber auch nicht bleiben. Die Schreie von dort oben werden die Bewohner von Girablanco auch hören können, wenn sie sie nicht schon gehört haben. Dann werden sie wissen wollen, was da los ist. Sie werden kommen und uns vielleicht Vorwürfe machen, dass wir denen da oben nicht geholfen haben. Oder sie kommen von der Nordseite, gehen über den Gletscher rauf und holen sich von den Sterbenden, was zu holen ist. Was auch immer wir tun, wir müssen es wohl schnell tun.” Alle nickten. Dein Pate sagte: „Und wir sollten keine Spuren zurücklassen." Er sah dich an, dann mich, dann raunte er: „Holt die Kanister und macht sie voll." Einige Frauen, die zurückgekommen waren, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hatten, stöhnten und machten das Kreuzzeichen. Die Frau des Bürgermeisters stellte sich vor ihn hin und stemmte die Hände in die Hüften: „Was bist du? Ein Mörder? Du willst sie umbringen, die da oben? Das ist ja verrückt! Sind wir noch Menschen?" Ein anderer unterbrach sie: „Sie sind keine von uns. Sie kommen wer weiß, woher und niemand hat sie zu uns geholt. Und sie sterben sowieso. Wir müssen nur verhindern, das man uns was nachsagen kann. Noch zwei kräftige Jungen, los, jeder zwei Kanister. Wir gehen alle rauf und sehen uns um." Mit den Kanistern waren wir nur halb so schnell, Paolo plagte sich vor uns mit zwei großen, vollen Kanistern, hinter uns ging Enrique, der vor Erschöpfung jammerte und Tränen in den Augen hatte. Die Erwachsenen gingen in einigem Abstand vor und hinter uns und beleuchteten den Steinweg mit Fackeln. Der Wind stemmte sich gegen die Wolkenberge und hielt über uns ein großes Loch frei, durch das der Mond und die Sterne herab scheinen konnten. Jetzt waren die Alten still und sahen sich um, sie gingen in kleinen Gruppen zwischen den im Fels steckenden Menschen auf und ab, als würden sie Vieh begutachten. Die Frauen bekreuzigten sich und murmelten stumme Gebete. „Gut", sagte der Bürgermeister dann, „nehmt, was ihr brauchen könnt, seid schnell, mir scheint, ich habe Fackeln am Gletscher gesehen." Inzwischen hatten wir die Menschen im Stein gezählt. Es waren, wenn wir keinen übersehen hatten, hunderteinundzwanzig Frauen, Männer und Kinder. Dein Pate nahm dir den Kanister weg und ging los. Die Frauen nahmen den Leuten Ringe und Uhren weg, Armreifen und Kettchen. Es war Schmuck, ja, aber solchen Schmuck hatte ich noch nie gesehen. Du auch nicht, oder? Du auch nicht. Als die Menschen im Fels begriffen, was wir vorhatten, begannen sie erst recht laut zu schreien, und der Bürgermeister lief auf und ab und rief, sie sollen das Maul halten, es sei eh schon alles egal. Sie verstanden ihn nicht.

Wir sahen unbewegt zu, wie sie mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Sie brannten wie Fackeln und es stank nach brennenden Haaren und ihre Schreie waren wie Sturmgedröhn. Und erst, als sie das kleine blonde Mädchen mit Benzin übergossen und anzündeten, musste ich ein wenig weinen. Ich sah, dass es dir so ging wie mir. Und aus irgendeinem Grund beruhigte mich das. Sie brannten lang. Mir kam es vor, als würden sie ewig brennen, als würden wir zusehen, wie ein Wald in Flammen aufging. Alles roch nach Feuer und heißem Stein, nach brennenden Haaren; ich werde den Geruch nie wieder vergessen können, den Geruch von Benzin und brennenden Haaren. Irgendwann in der dunkelsten Nacht waren sie alle tot. Sie waren schwarze Kohle, sahen aus, wie verkrüppelte Bäume, die ein Feuerwind kahl gefegt hat. Wir trugen die leeren Kanister ins Dorf, die Frauen gingen voraus und redeten darüber, was man alles anschaffen konnte, wenn man den Schmuck und die komischen Uhren ins Tal trug. Als ich den Arm meines Vaters auf meinen Schultern spürte, fragte ich ihn: „Sind wir jetzt alle Mörder, sind wir verdammt?" Er nickte und sah mich ernsthaft an: „Wir sind Mörder, aber es ist nicht so wild. Es waren ja keine von uns. Und sie waren sowieso zum Sterben verdammt. Siehst du das nicht auch so?" Nach einer Weile nickte ich langsam, aber nachdrücklich. Er fügte hinzu: „Wir haben sie erlöst und sonst nichts Böses getan."

Ein Jahr später waren wir beide wieder oben am Llano. Mir kam vor, dass unter dem dünnen, gefrierenden Schnee, ein dünner Benzinhauch zu riechen war. Die Skelette der Toten sahen aus wie versteinert. Ja, dieser Teil der Ebene sah jetzt so aus, als ob hier der versteinerte Rest eines unheimlichen Waldes stand.

Manche Stellen im flachen Fels sehen aus wie Gesichter mit schreienden Mündern, eingesunken und hart. Unheimlich ist es schon. Wir haben nie erfahren, woher diese Menschen kamen. Und Jahre später, als wir das Dorf mit unseren Frauen verließen, um uns im fruchtbaren Tal niederzulassen, war es uns egal.

Wir sehen uns nur von Zeit zu Zeit an und erkennen im Blick des anderen, dass wir nie aufhören werden, an die Toten im Fels zu denken.

Aw: Menschen im Fels

Die Geschichte wurde in der Fantastik-Reihe [Gegen Unendlich[/URL] zuerst als E-Book und jetzt, im Verlag p.machinery in der Taschenbuchausgabe veröffentlicht.

Liebe Grüße,

Peter](http://www.pmachinery.de/)

Aw: Menschen im Fels

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Als dein Pate abends von den Feldern kam, die im Osten liegen, und wo er Tag für Tag versuchte, dem Geröll und der Einöde Herr zu werden, gab es einen Streit mit deiner Patin. Und nach dem letzten und lautesten Wort von ihm stürmte sie wutentbrannt aus dem Haus, hastete mit wüstem Geschrei und wehendem Rock den Berg hinauf, bis sie in den hohen Wolken mottenhaft (~schwieriges, etwas barockes aber trotzdem sehr schönes Bild) verging. Zuerst verschwand sie, und kurz darauf auch ihr Gezänk. Dein Pate kam aus dem Haus, holte dich an der Hand hinein (eigentlich herein) und verpasste dir Schläge für irgendein Vergehen. Später kamst du und sagtest, dass du nicht geweint hättest, aber das hast du, denn deine Augen sind noch rot. Meine Mutter ruft mich zurück ins Haus, es gibt Abendbrot. Wir essen Ziegenkäse und frisches Brot, wir Kinder trinken Wasser und die Eltern trinken schweren, roten Wein. Sie unterhalten sich über deine verrückte Patin und ihren grobschlächtigen Mann, und als ich über die Schulter meines Vaters blicke, sehe ich dein dunkles Gesicht platt an der Schr**eibe. Du weichst zurück und formst mit dem Mund ein O. Ich schlinge das Essen herunter und murmle etwas als Entschuldigung. Meine Eltern hören mich nicht und mein kleiner Bruder schnappt sich den Rest vom Ziegenkäse. „Was ist?„, frage ich dich, als ich in dich rein renne. Inzwischen ist es dunkel und die Sterne funkeln am Himmel und der halbe Mond ist beinahe weiß. Nur aus ein paar Häusern unseres Dorfes dringt weiches Licht nach draußen. Es sind nicht mehr viele hier. Jedes Jahr werden es weniger, und mein Vater sagt, eines Tages wird Ruolfo ein Geisterdorf sein, mit nichts als Wind und Schatten. (<–schönes Bild!) Du ziehst mich am Ohr zu dir ran, legst eine Hand vor den Mund und flüsterst: „Die Patin ist gerade zurück gekommen und jetzt ist sie ganz verrückt geworden.“ „Warum?" „Sie sagt, oben am Llano wachsen lebende Menschen aus dem Gestein." Ich sehe dich ratlos an und verschränke die Arme unter dem Poncho. Die klamme Feuchtigkeit des Tages friert nachts zu einem hauchdünnen Film, der alles bedeckt. Jede Bewegung im Freien ist von einem dünnen (zu viel des Dünnen – hauchdünn <–> dünn – zweites Adjektiv ist sowieso nicht nötig) Knistern begleitet. Du schaust mich erwartungsvoll an, und als ich zurückschaue, rutscht dein Blick weg, du legst den Kopf in den Nacken und äugst zum Berg. Die Wolken haben sich verzogen, seine Felsen und Grate sind scharf im Mondlicht zu erkennen; die Nordostflanke ist mit Eis und Schnee bedeckt. Und der Wind hat gedreht, so wie immer in den späten Novembernächten. Er kommt (persönlich finde ich an dieser Stelle „herunterkommen“ als schwach, könnte aber zur Sprache des Kindes passen) jetzt vom Berg herunter gewieselt und er bringt ein dünnes (hüstel… :), langsam wird es ein bißchen anorektisch, nicht wahr? Vielleicht „spitzes“?), vielstimmiges Klagen mit sich. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf und ich sage: „Vielleicht hat sie wirklich etwas gesehen." Du legst den Kopf schief: „Ja, kann sein." „Also, was machen wir?" Du sagst: „Also, nur wir zwei? Wir sind die Schnellsten. Wir rennen den Steig hoch, den auch die Patin genommen hat, wir schaffen das im Nu. Wir sind wieder unten, bevor jemand merkt, dass wir überhaupt weg waren." Ich nicke. Wir sind wirklich die Schnellsten. Die Kinder haben noch nicht die Kraft und Ausdauer, die Jugendlichen bemühen sich schon um die würdevolle Langsamkeit der peruanischen (besser wäre „unserer“ – Perspektive des Protas nicht verlassen – sind sonst auch genug Hinweise auf Lokalisierung vorhanden) Bergbauern. Nein, wenn es ums Laufen geht, kann es nur um uns gehen. Ich sage nachdenklich, weil ich noch nicht ganz sicher bin: „Sollen wir gleich den Bürgermeister und die anderen Erwachsenen dazuholen? Da oben liegen vielleicht Verletzte herum und es hat für deine Patin nur so ausgesehen, als ob …" Während wir beratschlagen, wie wir vorgehen sollen, sind wir bereits losgelaufen, eng beieinander, verschwörerisch und schnell. Du keuchst: „Quatsch. Wir gehen rauf und schauen, ob´s gefährlich ist und so. Danach informieren wir alle anderen und werden gelobt, wetten?" Der Gedanke, ein Held zu sein, lässt mich schneller laufen, immer an deiner Seite.

Jetzt ist der Mond so weiß und groß, dass wir nächtlichen Schatten neben uns auf den Boden werfen, wir werfen Schatten und stürmen den Berg hinauf. Um uns ist es vollkommen still. Wir hören nur unser Atmen. Zwischendurch bleiben wir kurz stehen und tun so, als ob wir Luft holen müssten, aber wir atmen hart aus und ziehen den Bauch ein um das Seitenstechen wegzukriegen. Dann laufen wir weiter und als wir die untere Ebene des Llano erreichen, hören wir die Schreie deutlicher. Es sind viele Stimmen, es sind die Stimmen von Frauen und Männern und Kindern. Ihr Klagen ist so elend, dass wir stehen bleiben und uns ansehen, wir prüfen uns, ob wir das wirklich sehen wollen. Wir gehen weiter, jetzt mit dem schweren sicheren Tritt von Jungen, die am Berg aufgewachsen sind, und nicht mehr leichtfüßig laufend wie Bergziegen. Du fragst: „Wollen wir das wirklich sehen?" Ich antworte: „Weiß nicht." Aber es ist zu spät. Wir erreichen die erste flache Anhöhe des weiten Llano, ein karges Feld aus gigantischen Steintafeln und Eis. Und im Mondlicht sehen wir eine unglaubliche Menge von Menschen, die halb in den Stein eingesunken sind. Manche stecken verkehrt herum im Gestein, von anderen sieht man nur noch die Arme und die Köpfe, manche sind mit dem Gesicht in den Fels gesunken, andere starren flehentlich in das graue Licht der Nacht und bewegen die Lippen. Viele aber stecken bis zu den Hüften im Fels, und einer, an dem wir vorbeikommen, als wir langsam weitergehen, liegt flach eingesunken im Stein. Seine Augen sind offen und suchen den Himmel nach einer Erklärung ab. Er formt den Mund um ein Wort zu sagen, aber es kommt nur ein nasses Zischen, das so klingt wie der Fluss im Tal, wenn er im März über die Ufer tritt. Ich flüstere: „Oh Jesus, wir müssen ihnen helfen." Du zischst entsetzt: „Wie?" Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich. Ein kleines Mädchen mit weißblonden Haaren greift nach meinem Bein, als ich an ihr vorbeigehe. Sie steckt bis zu den Knien im Gestein … Sie murmelt etwas, dass so klingt wie „Papa". Dann rutscht ihre Hand ab und sie starrt fassungslos in die Sternennacht. Du sagst: „Es sind Hunderte. Wo kommen die bloß alle her? Sind die aus der Hölle?" Zuerst zögern wir, aber dann gehen wir langsam, auf unsere Schritte achtend, zwischen diesen Menschen hindurch wie durch einen verrückten, bösen Wald. Immer wieder hören wir ein Weinen und ein Flehen, aber wir verstehen die Sprache nicht, wir sehen uns an und zucken mit den Schultern. Manche haben Uhren an den Handgelenken, die schauen komisch aus, die haben keine Zeiger, sondern nur eine glatte Fläche, unter der Zahlen sind. Sie haben alle merkwürdige Kleidungsstücke an aus einem hellen, glänzenden Material, das in einer erst vor kurzem vergangenen Hitze geschmolzen war und auf ihrer Haut klebte … oder mit der Haut verschmolzen war. Wir sehen einen Mann, der fast frei ist, wirklich fast. Im Mondlicht steht er da, bis zu den Knöcheln im Fels eingesunken. Seine Kleidung sieht verbrannt und zerrissen aus, ja, über allem ist der Geruch von Brand und kalter, nasser Asche. Inzwischen hat der Wind aufgefrischt und ich sage zu dir: „Die erfrieren. Wir müssen was tun, die sterben da ja alle!"

Du siehst mich an und zuckst die Schultern und hast einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich glaube, es ist dir egal. Du gehst zu einem hin, der schon beinahe tot ist, gehst um ihn herum, dann bückst du dich etwas und nimmst ihm die metallisch schimmernde Uhr ab, die er am linken Handgelenk hat. Eigentlich will ich schimpfen, aber ich bin zwölf Jahre alte Neugierde, wie mein Papa immer sagt: „Was ist denn das?" Du zuckst wieder mit den Schultern, aber dann sagst du: „Egal. Unten im Tal bringt mir das sicher ein Schaf." Wir gehen zurück zur erhöhten Ebene. Der Wind stößt massive Wolken vor sich her, die an den Rändern silbern schimmern und ausfransen. Ich raune: „Wir können versuchen, sie rauszuziehen." Du schaust mich zweifelnd an, fast so, als wolltest du „Wieso?" sagen. Aber du flüsterst nahe an meinem Ohr: „Wenn das so einfach wäre, dann hätten die sich schon selbst befreit, oder was meinst du?"

„Ich wills bei dem kleinen Mädchen da versuchen. Sie weint so schrecklich." Gehe zu dem Kind mit den blonden Haaren und sage: „Hab keine Angst mehr, ich hol dich da jetzt raus." Sie schaut mich mit großen, nassen Augen an und ich sehe, dass ihr sogar schon zu kalt ist, um zu zittern. Der Rotz unter ihrer Nase ist gefroren, ihre Lippen sind blau und sie bekommt nur schwer Luft. Das geht vielen Leuten so, wenn sie die Luft hier in den Bergen nicht gewohnt sind. Manche Wanderer aus fremden Ländern sagen, dass die Landschaft hier in den peruanischen Anden, weit über dreitausend Meter, besonders streng und unnahbar ist und dass sie den Mensch zurückstößt, zurückweist. Ich verstehe diese Leute nicht. Das Leben ist hart, ja. Aber wir leben in größter Freiheit. Das sage ich zu dem Mädchen: „Gleich bist du frei. Ich ziehe dich heraus, halt dich an meinen Armen fest." Ich packe sie an den Unterarmen**,** stelle mich breitbeinig hin und fange zu ziehen an. Sie wimmert. Ich versuche es noch mal, verbessere meinen Stand, ziehe. Nichts. Jetzt weint sie so richtig laut. Weiter weg schreit ein Mann. Du zupfst mich am Ärmel, und ich lasse das Mädchen los und du sagst, klug, wie du bist: „Wir laufen hinunter schnell wie Gazellen (unglaubwürdig exotisch, müßte ein lokales Tier zum Vergleich sein). Wir holen Hilfe. Wir beide können da gar nichts machen." Ich nicke und tänzle auf den Zehenballen wie ein rennbereites Pferd. Mir kommt vor, wir laufen besonders schnell. Nicht nur, weil uns inzwischen selbst kalt geworden ist, sondern, weil dieser Wald aus Menschen, die im Stein halbversunken weinen und schreien, wirklich unheimlich ist. Mehr noch, es ist wie eine dieser Geschichten, unheimlich und furchtbar tragisch.(unnötig, unpassend, Geschautes nacherzählend)

Vier Stunden später sitzen wir mit gekrümmten Rücken vor dem Haus deiner Patin, eingewickelt in dicken Decken und Ponchos. Wir hatten unsere Hauben auf. (besser wäre es: Wir trugen auf dem Kopf unsere wollenen Chullos**)** Unsere Gesichter waren geschwollen vom Weinen. Wir stanken nach Schweiß, Ruß und Benzin. Wir atmeten ruhig. Alles war jetzt gut. Alles war still. Am Llano oben war alles vollkommen still. Wir brauchten uns nicht mehr darum zu kümmern. Aber ich sah in deinen Augen, an der Art, wie du den Mund verzogst, teils wegen der Schmerzen, teils, weil du nachdachtest, dass wir niemals aufhören werden, uns zu fragen, woher diese Menschen gekommen waren. Und warum sie halb im Boden steckten, manche tiefer drin, andere fast heraußen, und manche, die flach da lagen, in den Himmel starrten und vor Schmerzen weinten.

Als wir ins Dorf gelaufen kamen, (Ab hier stimmt die consecutio temporum nicht mehr: Das Geschehen würde Plusquamperfekt verlangen. Das Beschrieben ab hier ist vollständig unglaubwürdig, nicht mehr fantastisch.) waren alle am großen Platz beim Brunnen versammelt. Sie rauchten und redeten wild. Da wurde uns schon ganz schlecht vor Angst. Mein Vater und dein Pate fingen uns im Lauf ab und schüttelten uns durch, warum wir da rauf gelaufen seien, das hätte ja gefährlich sein können? Dann herrschte uns dein Pate an: „Wo ward ihr? Was ist dort oben? Hat sie etwa recht?" Er zeigte auf die Patin, und in dieser Geste war viel Widerwillen und Wut. Ich hörte zu, wie du erzähltest, was dort oben war: Menschen von irgendwoher, manche noch am Leben, andere schon fast tot. Es sähe so aus, als ob sie in den Fels eingesunken wären, so, als ob er kurz zu Wasser oder so geworden wäre, um dann wieder fest zu werden. Blödsinn, schrie dein Pate, Felsen, die flüssig werden, lüg mich nicht an, rief er. Der Wind brachte erneut eine Welle von Klagerufen und elenden Weinen. Die Frauen hielten sich die Ohren zu, ein paar andere brachten ihre erschreckten Kinder in die Häuser. Ich sagte: „Wir müssen sie retten." „Ja und wie?„, fragte mein Vater, und ich merkte, dass ihm keine der Aussichten im Moment wirklich gut gefiel. Der Bürgermeister unseres kleinen Dorfes sagte mit ruhiger Stimme: „So wie´s ist, kann´s aber auch nicht bleiben. Die Schreie von dort oben werden die Bewohner von Girablanco auch hören können, wenn sie sie nicht schon gehört haben. Dann werden sie wissen wollen, was da los ist. Sie werden kommen und uns vielleicht Vorwürfe machen, dass wir denen da oben nicht geholfen haben. Oder sie kommen von der Nordseite, gehen über den Gletscher rauf und holen sich von den Sterbenden, was zu holen ist. Was auch immer wir tun, wir müssen es wohl schnell tun.“ Alle nickten. Dein Pate sagte: „Und wir sollten keine Spuren zurücklassen." Er sah dich an, dann mich, dann raunte er: „Holt die Kanister und macht sie voll." Einige Frauen, die zurückgekommen waren, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hatten, stöhnten und machten das Kreuzzeichen. Die Frau des Bürgermeisters stellte sich vor ihn hin und stemmte die Hände in die Hüften: „Was bist du? Ein Mörder? Du willst sie umbringen, die da oben? Das ist ja verrückt! Sind wir noch Menschen?" Ein anderer unterbrach sie: „Sie sind keine von uns. Sie kommen wer weiß***,*** woher und niemand hat sie zu uns geholt. Und sie sterben sowieso. Wir müssen nur verhindern, das man uns was nachsagen kann. Noch zwei kräftige Jungen, los, jeder zwei Kanister. Wir gehen alle rauf und sehen uns um." Mit den Kanistern waren wir nur halb so schnell, Paolo plagte sich vor uns mit zwei großen, vollen Kanistern, hinter uns ging Enrique, der vor Erschöpfung jammerte und Tränen in den Augen hatte. Die Erwachsenen gingen in einigem Abstand vor und hinter uns und beleuchteten den Steinweg mit Fackeln. Der Wind stemmte sich gegen die Wolkenberge (zu barockes Bild für den Prota) und hielt über uns ein großes Loch frei, durch das der Mond und die Sterne herab scheinen konnten. Jetzt waren die Alten still und sahen sich um, sie gingen in kleinen Gruppen zwischen den im Fels steckenden Menschen auf und ab, als würden sie Vieh begutachten. Die Frauen bekreuzigten sich und murmelten stumme Gebete. „Gut", sagte der Bürgermeister dann, „nehmt, was ihr brauchen könnt, seid schnell, mir scheint, ich habe Fackeln am Gletscher gesehen." Inzwischen hatten wir die Menschen im Stein gezählt. Es waren, wenn wir keinen übersehen hatten, hunderteinundzwanzig Frauen, Männer und Kinder. Dein Pate nahm dir den Kanister weg und ging los. Die Frauen nahmen den Leuten Ringe und Uhren weg, Armreifen und Kettchen. Es war Schmuck, ja, aber solchen Schmuck hatte ich noch nie gesehen. Du auch nicht, oder? Du auch nicht. Als die Menschen im Fels begriffen, was wir vorhatten, begannen sie erst recht laut zu schreien, und der Bürgermeister lief auf und ab und rief, sie sollen das Maul halten, es sei eh schon alles egal. Sie verstanden ihn nicht.

Wir sahen unbewegt zu, wie sie mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Sie brannten wie Fackeln und es stank nach brennenden Haaren und ihre Schreie waren wie Sturmgedröhn. Und erst, als sie das kleine blonde Mädchen mit Benzin übergossen und anzündeten, musste ich ein wenig weinen. Ich sah, dass es dir so ging wie mir. Und aus irgendeinem Grund beruhigte mich das. Sie brannten lang. Mir kam es vor, als würden sie ewig brennen, als würden wir zusehen, wie ein Wald in Flammen aufging. Alles roch nach Feuer und heißem Stein, nach brennenden Haaren; ich werde den Geruch nie wieder vergessen können, den Geruch von Benzin und brennenden Haaren. Irgendwann in der dunkelsten Nacht waren sie alle tot. Sie waren schwarze Kohle, sahen aus, wie verkrüppelte Bäume, die ein Feuerwind kahl gefegt hat. Wir trugen die leeren Kanister ins Dorf, die Frauen gingen voraus und redeten darüber, was man alles anschaffen konnte, wenn man den Schmuck und die komischen Uhren ins Tal trug. Als ich den Arm meines Vaters auf meinen Schultern spürte, fragte ich ihn: „Sind wir jetzt alle Mörder, sind wir verdammt?" Er nickte und sah mich ernsthaft an: „Wir sind Mörder, aber es ist nicht so wild. Es waren ja keine von uns. Und sie waren sowieso zum Sterben verdammt. Siehst du das nicht auch so?" Nach einer Weile nickte ich langsam, aber nachdrücklich. Er fügte hinzu: „Wir haben sie erlöst und sonst nichts Böses getan."

Ein Jahr später waren wir beide wieder oben am Llano. Mir kam vor, dass unter dem dünnen, gefrierenden Schnee, ein dünner Benzinhauch zu riechen war. Die Skelette der Toten sahen aus wie versteinert. Ja, dieser Teil der Ebene sah jetzt so aus, als ob hier der versteinerte Rest eines unheimlichen Waldes stand.

Manche Stellen im flachen Fels sehen aus wie Gesichter mit schreienden Mündern, eingesunken und hart. Unheimlich ist es schon. Wir haben nie erfahren, woher diese Menschen kamen. Und Jahre später, als wir das Dorf mit unseren Frauen verließen, um uns im fruchtbaren Tal niederzulassen, war es uns egal.

Wir sehen uns nur von Zeit zu Zeit an und erkennen im Blick des anderen, dass wir nie aufhören werden, an die Toten im Fels zu denken.

Hallo Peter.

Anfangs hat mich die Geschichte fasziniert und mitgerissen. Eine Welt wurde von einem Zwölfjährigen beschrieben, die mich – bös verzaubert – an ungeheure, sehr gelungene Fantastik denken ließ.

Dann kippte die Geschichte in eine völlig andere um, die von vorne bis hinten unglaubwürdig/irreal war/ist. Keine Fantastik mehr: Ein Flugzeugabsturz in der Nähe (man hört das Wehklagen), ohne daß man den jenen Berg erschütternden Aufprall gehört hätte; alle Leute noch am Leben, aber keiner im Freien; keine Suchaktionen, aber ein katholisches Dorf als unmotiviertes Mordkommando; eine Mordaktion, welche eine ungeheure Logistik und Anstrengung erfordert hätte (alleine das dazu erforderliche Benzin, circa mindestens 400 Liter!!!) und Spuren hinterlassen hätte wie von einer Horde Elefanten in Buckingham Palace, ausgeführt in naher Anwesenheit eines fremden Suchtrupps; sogar Monate oder Jahre danach (in Touristengegend und bei der Katastrophe und der Alarmierung von Nachbarn!) keine Bergung und Untersuchung (alleine das allmähliche Auftauchen geraubter Stücke!!): Das ist, nach einem vielversprechendem Anfang, das Umkippen in ein absurdes Grand Guignol ohne Hand und Fuß.

Freilich hast Du damit (mit der Anfangssequenz) gezeigt, daß Du über echtes Talent verfügst, daß Du Geschichten entwerfen kannst, welche den Leser ganz und gar mitreißen können.

Merkwürdig dann der hinzugeklatschte Fremdkörper der „zweiten“ inkohärenten und unplausibler Geschichte. Damit wurde auch das interessante Vorleben der beiden Halbwüchsigen (Eltern, Pate, Patin, fremde Touristen) zur Makulatur abgewertet.

Es gelingt Dir sehr gut eine für den Zwölfjährigen passende Erzählperspektive, welche jedoch im Laufe der Erzählung von Dir gelegentlich gebrochen wird.

Fazit:

Den ersten Teil habe ich begeistert gelesen, und ich meine nun, in Dir eine grandiosen künftigen Autoren von Kurzgeschichten gefunden zu haben, vielleicht später auch von etwas längeren Geschichten.

Ich freue mich!

Herzlich

Abifiz

Aw: Menschen im Fels

Hallo Abifiz,

zuerst mal: vielen Dank, dass Du Dich mit der Geschichte auseinandergesetzt hast und konstruktive Vorschläge machst. Ein Teil Deiner sachlichen Kritik allerdings geht von der Prämisse aus, dass die “Menschen im Fels” Opfer eines Flugzeugunglücks sind. Dadurch folgerst Du, hätte es einen riesen Krach geben, der auch in anderen Dörfern rund um den Llano hätte gehört werden müssen. Dabei habe ich keinen Hinweis darauf gegeben, dass das schreckliche Schicksal der Menschen dort oben irgendetwas mit einem Flugzeugabsturz zu tun haben könnte. Die Menschen im Fels und der Grund, warum sie dort oben halb im Fels stecken, ist für die Geschichte das, was man in Filmen macguffin nennt: ein Ereignis oder Schicksal, dass selbst nicht in Erscheinung tritt und die Geschichte vorantreibt.

Natürlich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie die armen Leute in ihre Lage gekommen sind,halte es aber eben für besonders reizvoll, dass die Lösung nicht Thema der Geschichte ist sondern der verworrene Akt der Gnade der Dorfbewohner.

Herzliche Grüße,

Peter

Aw: Menschen im Fels

Hi Nathschlaeger.

Aus der tiefe der Nacht antworte ich Dir. (Fehlt nur noch: „O Herr“, dann hätten wir den Psalmisten… :slight_smile: )

Tschjah, wenn McGuffin, dann umso schlimmer… Ein McGuffin, das nicht einfach die Aufmerksamkeit fokussierend nebenbei antreibt, sondern das zentrale Ereignis (abgesehen von folgendem unmotiviertem, kaltblütigem und kostspieligem Massenmord, der allerdings im Zusammenhang mit ihm stünde) und unerklärte und unglaubwürdige Mitte der Geschichte darstellt, wäre ja eine superbe Bauchlandung. Sollte es sich um kein Flugzeugabsturz handeln, müßte nach und nach Magisches, Bedrohliches, Mythisches als zunehmend dominant, statt Touristen und Hinweise auf die stinknormale Lebensführung, gezeigt werden, was nicht der Fall bei Deiner Erzählung ist.

Es würde sich dann um ein absoluter, kontextloser Fremdkörper bei der Erzählung handeln. Die übrigen von mir angesprochenen Aporien bleiben.

Zum McGuffin mache ich Dir für Künftiges einen Vorschlag, von dem ich den Eindruck im Moment habe, er könnte Dir liegen:

Du kennst „Tschechows Gewehr“. So etwas in eine Geschichte sehr exponiert einbauen, dann die Lesererwartung jedoch von leichter Hand nebenbei enttäuschen. Das könnte reizvoll geraten, meinst Du nicht?

See you later, alligator

Abifiz

Aw: Menschen im Fels

Hallo Abifiz,

ich will nicht bockiger klingen, als ich mich fühle, vor allem, weil Du Dich so konstruktiv einbringst und Dich mit der Geschichte so intensiv befasst.

Als ich diese Geschichte geschrieben habe, stand ich im Bann von Julio Cortazar, der mit größter Leichtigkeit Geschichten verfasste, in denen das Unerklärte, das Unglaubwürdige als Selbstverständlichkeit in die Geschichte einfließt. Wie zum Beispiel die Geschichte eines Mannes, der von einem Tag auf den anderen damit geplagt wird, Gänsefedern zu erbrechen. Oder die Geschichte einer unheimlichen Hausnahme durch Fremde. In vielen seiner Geschichten ist das Unheimliche, Fremde und Bedrohliche nicht erklärt, es ist da, nimmt ganz selbstverständlich seinen Platz ein und wirkt. Natürlich werde ich mich nicht dazu versteigen, mich mit Cortazar zu messen, oder mit Juan Rulfo, wenn es um Geschichten geht, in denen das Fantastische, das Magisch Reale die Wirklichkeit durchdringen und Reaktionen bewirken, aber ich fühle mich doch ihren erzählerischen Idealen nahe.

Jedenfalls danke ich Dir sehr für Deine Anmerkungen und für Dein Interesse; ich kann da wirklich sehr viel mitnehmen.

Liebe Grüße,

Peter

Aw: Menschen im Fels

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Hehe, Peter,

solange Du mir nicht Pest und Cholera an den Hals wünscht, ist ja alles gut… :slight_smile:

Wir reden im Moment unbeabsichtigt ein klein wenig aneinander vorbei.

Selbstverständlich kann man auch surreale ‚Real-Irrealität‘ inszenieren. (Was natürlich mit einem MacGuffin nichts Gemeinsames mehr hat.) Bestes unerreichtes Beispiel dafür in Erzählungen bleibt ja Kafkas faszinierende „Die Verwandlung“. Auch, obwohl mit abgewandeltem Akzent, „Das Schloß“, oder wiederum anders der „Bericht eines Landarztes“. Auch ich habe mich zweimal an eine solche (kürzere) Erzählung vor sehr vielen Jahrzehnten als altkluger ‚Jüngling‘ versucht, aber nicht auf Deutsch.

Der Bereich ist in der Tat vielversprechend, auch wenn ich heute etwas anzweifle, was ich damals mir so gerne erdreistet hatte. (Und ich weiß auch nicht mehr wo die Erzählungen abgeblieben sind…) Auch kann man in eine sonst realistisch anmutende Story ein merkwürdiges, kaum ohne weiteres einordnerbares, beunruhigendes Ende einbauen. ("Laß mal den Ehrlichen und Fleißigen nicht ruhig schlafen…!")

Nur, auch das erfordert einiges: Das Geschehen muß – und sei es auf einer surreales Ebene – Aspekten der literarischen Kommensurabilität entsprechen.

Gegenüber der in jeder Hinsicht – auch der psychologischen – unplausiblen und realistisch seinwollenden Mordtat, verliert Deine Ausgangssituation ihre literarische Kommensurabilität.

Es handelt sich dabei um die Fähigkeit und Fertigkeit, subtil von Innen die Realität auszuhebeln, aus dem Alltäglichen das Irreale durchschimmern zu lassen, aus dem Ernst das Absurde, aus dem Überkandidelten das Abgründige, aus dem Moralisierenden die gehässige Fratze des Destruktiven, ohne je aus der Kommensurabilität herauszufallen.

Da Du hier ein gutes Beispiel dafür, nämlich Cortazar, erwähnst, zitiere ich eine Stelle seiner Überlegungen, die mir immer sehr viel bedeutet hat:

„Yo creo que desde muy pequeño mi desdicha y mi dicha, al mismo tiempo, fue el no aceptar las cosas como me eran dadas. A mí no me bastaba con que me dijeran que eso era una mesa, o que la palabra madre era la palabra madre y ahí se acaba todo. Al contrario, en el objeto mesa y en la palabra madre empezaba para mí un itinerario misterioso que a veces llegaba a franquear y en el que a veces me estrellaba. En suma, desde pequeño, mi relación con las palabras, con la escritura, no se diferencia de mi relación con el mundo en general. Yo parezco haber nacido para no aceptar las cosas tal como me son dadas.“

Ich übersetze, wenn auch in kein so gelungenes, dafür reichlich ‚abifizisches‘ :slight_smile: Deutsch:

"Mir kommt es so vor, daß seitdem schon ich ein Kleinkind gewesen bin, zugleich mein Elend wie mein Segen gewesen sind, daß ich die Dinge, wie sie gegeben sind, nie hingenommen habe. ****Wobei hier ‚el no aceptar‘ (das Nicht-Hinnehmen) eigentlich auch mit ‚nie habe hinnehmen wollen‘ übersetzen könnte.]

Mir genügte [eben] nicht, mich damit zufrieden zu geben mit dem, daß man mir sagte, das ist ein Tisch; oder daß mit dem Terminus ‚Mutter‘ halt die Vokabel ‚Mutter‘ [ausgesagt worden] war und es damit auf sich hatte! [Terminus und Vokabel im spanischen Text durch das selbe Morphem. Fett (auch weiter im Text) und Ausrufezeichen von mir.]

Im Gegenteil, ob beim Gegenstand ‚Tisch‘ oder dem Wort ‚Mutter‘ öffnete sich mir ein [verzauberter] Pfad voller Geheimnisse, welcher mir manchmal die Freiheit schenkte, manchmal mich erschlagen [konnte]. [Wie Kafka es bei [B]‚Situationen‘, ‚Settings‘, seinerseits auch so empfand, aber eben nicht in dem befreienden Sinne!]

Also, wenn ich es auf den Punkt bringe, meine Beziehung zum Wort und zu der Schrift unterschied sich seit Zeit meiner Kindheit nicht von meiner [skeptischen] sonstigen Beziehung zur Welt.

Es erscheint mir so, daß ich dazu geboren wurde, um die sichtbare Realität ‚las cosas‘, ‚das Dinghafte‘] nicht [einfach so] hinzunehmen."

Cortazar lebt also seine Literatur, schreibt seiner eigenen literarischen Binnensicht kommensurabel.

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, das zum Ausdruck zu bringen, was ich auch tatsächlich sagen wollte: Die Crux einer jeder Kommunikation zwischen uns Irdischen. Aber gerne stehe ich für Rückfragen weiterhin zur Verfügung, wobei es mir nicht an irgendeiner Kontroverse gelegen ist, sondern – wie Dir – an einer fruchtbaren gegenseitigen Verständigung, und – auch dabei genauso wie Dir – am ‚Literarischen‘.

Herzlich

Abifiz

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