Schein oder Sein

Hallo zusammen,

immer wieder fällt mir beim Drüberlesen auf, daß ich entweder an einer Marotte oder an Überkorrektheit leide: In meinem Buch scheint vieles zu sein, statt daß es einfach ist.

Beispielsatz (der noch Überarbeitung bedarf, an dem ich aber schön zeigen kann, was ich meine):
Die Stadtmauer wand sich durch das Land wie ein fetter Lindwurm, den klafterstarken Leib um Morena gekrümmt, bis er im Norden mit dem Gebirge zu verschmelzen schien.

Einfacher, direkter und darum fast immer besser wäre, das Ganze ohne Schein aufzuschreiben. Daraus folgt diese Variante:
Die Stadtmauer wand sich durch das Land wie ein fetter Lindwurm, den klafterstarken Leib um Morena gekrümmt, bis er im Norden mit dem Gebirge verschmolz.

Grammatikalisch gesehen ist die Variante mit „verschmolz“ besser. Nun kann aber, selbst wenn wir die Existenz von Lindwürmern als gegeben hinnehmen (wobei es sie in meiner Welt nicht gibt), ein solcher schlecht tatsächlich mit einem Gebirge verschmelzen. Es sieht nur so aus, als ob. Weshalb ich mich für das „zu verschmelzen schien“ entschieden habe.

In einem Satz würde es mich selber nicht stören, allerdings tauchen „zu … schien“-Konstruktionen bei mir gehäuft auf. Wobei gehäuft übertrieben ist. Will sagen: Alle paar Seiten, geschätzt.

Stolpert Ihr eher über das „zu verschmelzen schien“ oder über das „verschmolz“?
Wie handhabt Ihr solche Sachen grundsätzlich: Sein nur dann, wenn es wirklich so ist, sonst Schein? Flexibel, je nach Gusto? Habt Ihr dafür eigene Grundregeln (die man natürlich auch immer mal brechen darf)?

Laßt hören :slight_smile:

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H. P. Röntgen (Was dem Lektorat auffällt) führt “scheinen” als eines seiner Vampirverben auf und argumentiert, dass es dann so SCHEINT, als ob der Autor sich nicht festlegen wollte. Seitdem achte ich darauf, dass ich weniger “scheinen/schien” verwende, denn ich sollte wohl wissen, was ich ausdrücken will.

Heißt: Für mich sind beide Varianten einleuchtend und ich stolpere erst beim 2. Mal Lesen über das “schien” (aber ich bin ja auch kein Profi), erst wenn ich mich an dieses Kapitel aus dem Buch von Röntgen erinnere, überdenke ich es. So handhabe ich es auch selbst beim Schreiben, aber manchmal muss es einfach scheinen statt zu sein (= nach Gusto).

Viele Grüße
Scherbengericht

Edit: Ich brauch einen Kaffee.

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Liebe Buchling,

als selbst notorisch “Schein-Besessener” kann ich deine Bedenken gut nachvollziehen. Es gibt allerdings nicht immer Probleme, sondern manchmal macht man sie sich nur selbst ohne triftigen Grund.
Im hiesigen Beispiel mit der Stadtmauer ist es ganz einfach: Sofern sie nämlich tatsächlich bis ans Gebirge reicht (was nur du als Autorin wissen kannst), solltest du im entsprechenden Satz auf ‘scheinen’ verzichten. Und vice versa eben nicht! Wenn du selbst – als Autorin – unsicher bist, gilt, was @Scherbengericht mit der Lektoratsanspielung bereits zum Ausdruck brachte: Manchmal wollen sich Autoren auch nicht entscheiden … i.d.R. (die freilich Ausnahmen hat) ist das nicht so toll.

Gruß von Palinurus

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Ich hake bei dem letzten Teil, denn es ist wohl der Lindwurm, der mit dem Gebirge verschmilzt oder zu verschmelzen scheint und nicht die Stadtmauer. Sollte es nicht eher die Stadtmauer sein, die mit dem Gebirge verschmilzt bzw. scheinbar verschmilzt?

Schien bedeutet für mich, dass es nur so wirkt bzw. so aussieht. Nimmst du es weg, dann geschieht dies tatsächlich.

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Genau so sehe ich es auch, genauso die Sache mit dem Lindwurm.

Wenn etwas nur so scheint als ob, ist es in Wirklichkeit anders. Wenn nichts ‘scheint’, ist es so wie beschrieben. Das muss nicht unbedingt etwas damit zu tun zu haben, dass sich der Autor nicht festlegen will (klar, sowas gibts natürlich auch), aber bei der Frage, ob eine Stadtmauer mit dem Gebirge verschmilzt oder nicht, gibts eigentlich keine Grauzone.

wie wärs denn mit
…bis sie im Norden scheinbar mit dem Gebirge verschmolz.

Damit würdest du alle Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Jetzt könnte man natürlich die Sache mit dem Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend anbringen … wegduck :wink:

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Ich würde den verschachtelten Satz deutlich verkleinern und nur das Schreiben, was wirklich wichtig ist. “Schein” braucht niemand. Das gibt dem Werk keinen Mehrwert. Besser klare Sätze die den Leser fesseln und mitnehmen.

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Wenn ich zwischen Deinen beiden Beispielen wählen müsste, würde mir die “zu verschmelzen schien”-Variante besser gefallen.

Ich würde es etwas anders schreiben:
[INDENT]Die Stadtmauer wand sich durch das Land, den klafterstarken Leib um Morena gekrümmt und es sah [für einen Beobachter/den Protagonisten/sonstwen] so aus, als ob sie im Norden nahtlos in das Gebirge übergehen würde.
[/INDENT]
Damit wird klar, dass es nur so aussieht und hast ggf. auch den direkten Bezug zu dem Beobachter hergestellt.

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Ab dem “wie” ist es eine Metapher, d.h. alles Weitere beschreibt das Vergleichsbild; man muss nicht noch einmal betonen, dass es nur ein Bild ist. Und Dinge, die man am Horizont beobachtet, sind fast immer Dinge, die nur so erscheinen; auch das ist einem als Leser vertraut.

Meine Regel in solchen Fällen ist: Hat man als Leser das Bild vor Augen, das man haben soll? Danach ist der zweite Satz (ohne das “schien”) der bessere, weil er einem dieses Lindwurm-Bild auf die innere Netzhaut zaubert, und zwar ungestört von einem besorgten Einwurf, “Du hast schon verstanden, lieber dummer Leser, dass das nur ein Vergleich ist, ja?” Ja, das hat man verstanden.

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Hm … Ich hätte noch die Variante:
Die Stadtmauer wand sich durch das Land wie ein fetter Lindwurm, den klafterstarken Leib um Morena gekrümmt. Es sah aus, als würde er im Norden mit dem Gebirge verschmelzen.

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Ich danke Euch allen, wieder konnte ich etwas für mich mitnehmen aus diesem hilfreichen Forum. (Es wird etwas ohne “schien”.) Einen schönen ersten Advent!